Lockruf der Vergangenheit
Arbeitszimmer auf uns warte.
Colin begleitete seine Schwester, während ich mit Theo in das Zimmer ging, das ich noch nicht kannte. Es war, nicht unähnlich der Bibliothek, ein behaglicher Raum, in dem es nach dem Leder der schweren Sessel roch, ganz mit dunklen Möbeln eingerichtet. Im Unterschied zur Bibliothek jedoch stand hier ein großer Mahagonischreibtisch mit vielen Fächern und Schubladen, zweifellos der Ort, wo die Geschäfte der Firma Pemberton erledigt wurden.
An diesem Schreibtisch saß ein ungewöhnlich kleiner, schmächtiger Mann, mit glänzendem, kahlem Kopf und schmalen kleinen Augen. In dem großen Sessel hinter dem Schreibtisch wirkte er noch unscheinbarer, aber ich merkte bald, daß die äußerliche Unscheinbarkeit durch einen scharfen Geist mehr als ausgeglichen wurde.
Anna war schon da, in einem schwarzen Seidenkleid und mit einem schwarzen Schleier über dem Haar. Sie sah blaß aus. Steif und kerzengerade saß sie auf dem Rand ihres Sessels. Wir anderen verteilten uns im Halbkreis um den Schreibtisch und warteten.
Mr. Horton war ein Mann, der von höflichem Geplauder nichts hielt. Ohne uns anzusehen, die Augen auf die Papiere gerichtet, die vor ihm lagen, begann er ruhig und sachlich zu sprechen.
»Mr. Theodore Pemberton und Mr. Colin Pemberton, meine Herren, es ist meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß Mr. Henry Pemberton kein Testament hinterlassen hat. Unter diesen Umständen können im Rahmen des Gesetzes verschiedene Schritte unternommen werden – «
»Was soll das heißen, Sir«, unterbrach Theo plötzlich so heftig, daß wir alle zusammenfuhren. »Was soll das heißen, mein Vater hat kein Testament hinterlassen?«
»Eben das, Mr. Pemberton.«
»Ja, natürlich, das habe ich schon verstanden. Aber ich möchte wissen, wieso er kein Testament hinterlassen hat. Ich weiß, daß er eines gemacht hat. Das weiß ich ganz genau.«
»Bei mir hat er es nicht hinterlegt, Sir, und ich betreue nun die Angelegenheiten Ihrer Familie seit zwölf Jahren.«
»Dann muß es im Safe liegen. Ja, er hat es sicher in den Safe gelegt.«
»Da haben wir nachgesehen, Mr. Pemberton. Es ist kein Testament vorhanden.«
Theo, der halb von seinem Stuhl aufgestanden war, setzte sich langsam wieder. »Was sind das dann für Schritte, die man, wie Sie eben sagten, in einem solchen Fall unternehmen kann?« fragte er ruhiger. »Das Gesetz hat für solche Fälle Vorsorge getroffen, um die Erbberechtigten zu schützen. Unser Fall jedoch ist insofern etwas anders gelagert, als der Vorgänger Ihres Vaters, Ihr Großvater also, für die Situation, die jetzt eingetreten ist, vorgesorgt hat. Damit will ich sagen, daß das Testament Ihres Großvaters eine Klausel enthält, die den Nachlaß regelt für den Fall, daß Ihr Vater kein Testament hinterlassen sollte.«
»Und Sie haben eine Abschrift dieses Testaments?«
»Selbstverständlich, Sir.« Mr. Horton raschelte bedeutsam mit den Papieren, obwohl er ihren Inhalt gewiß auswendig wußte. Während wir warteten, musterte ich noch einmal meine Verwandten. Anna hielt geistesabwesend die rotgeränderten Augen auf den Teppich gerichtet. Ich bezweifelte, daß sie auch nur ein Wort von dem, was bisher gesprochen worden war, gehört hatte. Martha strickte, ohne den Kopf von den klappernden Nadeln zu heben. Nur Colin und Theo zollten Mr. Horton ungeteilte Aufmerksamkeit, wobei Theo im Gegensatz zu Colin angespannt und verkrampft wirkte.
»Die betreffende Klausel im Testament Ihres Großvaters bestimmt, daß, für den Fall, daß Ihr Vater, Henry Pemberton, bei seinem Tod kein Testament hinterlassen sollte, das gesamte Vermögen samt allen Ländereien und Gebäuden sowie das Geschäftsunternehmen an seinen Enkel – « Theo beugte sich vor – » – Colin Pemberton fallen soll.«
»Das ist nicht möglich!« rief Theo und sprang auf. Mit einer blitzschnellen Bewegung riß er dem Anwalt das Testament aus der Hand. Colins Gesicht wurde bleich. Sonst zeigte er keine Regung. »Das ist unmöglich!« rief Theo erneut und beugte sich drohend über Mr. Horton. »Davon haben wir nichts gewußt.«
»Es ist völlig rechtmäßig, Mr. Pemberton«, versicherte Horton unerschrocken. Zweifellos waren ihm derartige Ausbrüche von anderen Testamentseröffnungen her bekannt. »Wenn Sie nicht davon wußten, dann nur, weil niemand es für nötig hielt, es Ihnen vorzulesen. Keiner dachte ja daran, daß Ihr Vater sterben würde, ohne ein Testament gemacht zu haben.«
»Sir John scheint sehr wohl
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