Lockruf des Blutes
ich gehe. Ich spüre Freys Blicke im Rücken, als ich mich zur Tür umdrehe. In Gedanken spricht er mich an: Was hast du vor?
Ich bleibe stehen, die Hand schon auf dem Türknauf. Das weiß ich noch nicht genau.
Freys Gesichtsausdruck ist nachdenklich. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass du vorsichtig sein sollst.
Nein. Das ist nicht nötig.
Doch sobald ich allein im Auto sitze, beginne ich heftig zu zittern. Plötzlich und gnadenlos fordern meine starken Gefühle für Trish und die Wut darüber, was ihr angetan wurde, ein Ventil.
Ich lege den Kopf aufs Lenkrad und lasse den Tränen freien Lauf. Ich versuche nicht, sie zu beherrschen oder zurückzuhalten. Ich versuche nicht, vernünftig zu denken oder etwas zu verstehen. Ich schluchze völlig haltlos. So starke emotionale Ausbrüche kamen bei mir selten vor, als ich noch ein Mensch war. Offen gestanden überrumpelt mich dieser völlig. Und er dauert auch nicht lange. Als ich nicht mehr weinen kann, richte ich mich auf. Ich bin froh, dass ich immer eine Schachtel Taschentücher im Auto habe. Denn zufällig mag ich den Pulli, den ich heute trage.
Sobald der emotionale Wirbelsturm sich ausgetobt hat, lehne ich mich im Fahrersitz zurück und denke über meinen nächsten Schachzug nach. Ich habe seit Stunden nicht mehr mit meiner Mutter gesprochen. Jetzt ist es schon nach sechs, also versuche ich sie zu Hause zu erreichen.
Der Anrufbeantworter geht dran. Ich lege auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Ich wüsste nicht, was ich sagen sollte. Dann geht mir auf, dass sie mir vielleicht eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter zu Hause hinterlassen hat. Ich rufe meine Nachrichten ab, und tatsächlich. Offenbar hat Carolyn meine Eltern kontaktiert. Mom und Dad wollen sich nun doch zum Abendessen mit Carolyn treffen. Sie sagt mir, wo, aber ich habe nicht die Absicht, mitzukommen. Ich könnte mich nicht in demselben Raum aufhalten wie Carolyn, ohne dass meine Gefühle allzu offensichtlich würden. Und meinen Eltern droht schließlich keine Gefahr von ihr. Sie macht ja nur Kinder fertig. Ich bin sicher, Carolyn hat sie um dieses Treffen gebeten, um sie auf ihre Seite zu ziehen.
Ihr ist natürlich nicht klar, wie zwecklos das ist. Aber bald wird sie es merken. Wenn wir beide uns wiedersehen.
Ich beschließe, nach Hause zu fahren. Ein heißes Bad und eine Mütze voll Schlaf sind genau das, was ich jetzt brauche. Vampire haben, genau wie Menschen, ihre emotionalen Grenzen, und meine sind jetzt erreicht.
Ich merke gar nicht, wie müde ich bin, ehe ich aus dem Aufzug bis vor meine Tür trotte und plötzlich stehen bleibe – Licht schimmert unter der Tür durch. Und ich höre Musik.
Ich weiß, dass ich weder das Licht noch das Radio angelassen habe, als ich heute Morgen gegangen bin.
Die Erschöpfung ist verflogen. Ich hänge mir die Handtasche wie eine Schärpe vor die Brust, beuge mich vor und lausche auf die Geräusche von drinnen. Alles, was ich höre, ist mein eigenes Herz, das Adrenalin durch meinen Körper pumpt. Ich weiß, wenn ich jetzt mit dem Schlüssel die Tür aufschließe, mache ich mich für den oder die da drin bemerkbar. Ich möchte die Eindringlinge überraschen – nicht umgekehrt.
Ich sammle meine Kraft, ramme die Tür und treffe hart darauf. Holz splittert mit einem ohrenbetäubenden Krachen, und der Türknauf schlägt ein Loch in den Putz der Wand im Flur.
Ich springe durch die Öffnung und gebe unwillkürlich ein Knurren von mir.
Und dort, in der Tür zum Schlafzimmer, steht … Max.
Er sieht mich blinzelnd an. In einer Hand hält er einen Drink, ein Handtuch in der anderen. Er schüttelt den Kopf, als wäre ihm schwindlig, und blinzelt erneut.
Ich blinzle ebenfalls. Er ist nackt. Seine Haut schimmert, das zurückgekämmte Haar klebt ihm am Kopf. Er muss gerade aus der Dusche gekommen sein.
Wir starren einander noch einen Moment lang an, dann lächelt er.
»Wow, Anna«, sagt er. »Beeindruckender Auftritt.«
Kapitel 17
N atürlich ist meine erste Reaktion, Max zu beschimpfen. Ihn zu fragen, was zum Teufel er hier zu suchen hat und warum er mir nicht eine Nachricht hinterlassen und mir Bescheid sagen konnte?
Aber er ist nackt. Und ein nackter Max ist wahrlich ein erfreulicher Anblick.
»Ich dachte, du wolltest mit David und Wie-heißt-sie-noch-gleich essen gehen«, sage ich mit plötzlich staubtrockener Kehle.
Er lässt das Handtuch fallen und geht einen Schritt auf mich zu. »Findest du es bedauerlich, dass ich abgesagt
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