Lockruf des Blutes
aufspringen will, und wir beide führen einen seltsamen Tanz auf, bis wir uns wieder entwirrt haben. Inzwischen sind die beiden Anzüge auf und davon.
Der Nachbar ist ein gütig wirkender älterer Herr mit einem Lächeln wie aus dem Kinderfernsehen und drahtigem weißem Haar, das unter den Rändern einer verwaschenen Baseballkappe hervorlugt. Er sieht mich stirnrunzelnd an. »Sind Sie verletzt, Miss?« Er schiebt die Kappe zurück und kratzt sich am Kopf. »Was ist denn gerade passiert? Soll ich die Polizei rufen?«
Ich habe nur Augen für die Blues Brothers, die zurück zum Parkplatz sprinten.
Der Nachbar legt mir eine Hand auf den Arm. »Kamen diese Männer etwa aus Daniels Wohnung?«, fragt er. »Daniel ist nicht zu Hause, wissen Sie? Er ist in der Schule.«
Ich versuche, mein Gleichgewicht wiederzufinden, und zerre meinen Pulli herunter, der peinlich weit hochgerutscht ist. Meine Blicke folgen den Anzügen, und als ich gerade beschließe, ihnen nachzurennen, bemerkt der Alte: »Ob Daniels reizende junge Nichte ihnen wohl gesagt hat, dass er nicht da ist?«
Das sichert ihm meine volle Aufmerksamkeit. »Nichte?«
Das runzlige kleine Gesicht des alten Herrn wird von einem breiten Lächeln erhellt. »Habe sie gestern Abend kennengelernt. Daniel hat sie zum Essen ausgeführt.« Er tippt sich mit dem Zeigefinger an den rechten Augenwinkel. »Diesen alten Augen entgeht nichts, wissen Sie? Ich war genau hier am Fenster, als die beiden herauskamen. Genau wie heute Morgen. Natürlich habe ich getan, was sich als guter Nachbar gehört, ich bin zur Tür gegangen und habe mich vorgestellt. Daniel hat gesagt, das Mädchen sei aus Boston zu Besuch. Da kommt er nämlich her, wissen Sie?«
Ich sage ihm lieber nicht, was ich weiß – oder was ich mit »Daniel« anstellen werde, wenn ich ihn in die Finger bekomme. Nicht zu glauben, dass er Trish mit in die Öffentlichkeit genommen und damit in Gefahr gebracht hat.
Ich achte jetzt nur noch auf den alten Herrn. »Wie hat das Mädchen denn ausgesehen?«, frage ich und bemühe mich, mir meine Sorge nicht anmerken zu lassen.
»Ach, ein süßes kleines Ding. Etwa dreizehn, würde ich sagen, ein bisschen zu dünn. Blondes Haar, so lang.« Er berührt seine Schulter. »Wunderhübsche Augen.«
»Wissen Sie, wie sie heißt?«
»Trish«, antwortet er wie aus der Pistole geschossen. »Nur seltsam, dass Daniel dann allein nach Hause gekommen ist. Ich wollte ihn heute Morgen danach fragen, aber er war so schnell weg.«
Allein zurückgekommen? Mehr brauche ich gar nicht zu hören. Ich danke dem alten Herrn für seine Hilfe. Er macht den Mund auf, um noch etwas zu sagen, aber ich warte seine Worte nicht ab und verzichte auf unauffällige Gelassenheit, sondern rase zurück zum Auto. Diesmal springe ich über die Mauer, ohne mich vorher auch nur umzuschauen. Soll der neugierige Nachbar, der das gesehen hat, ruhig versuchen, es irgendwem zu erklären.
Bis ich Moms Schule erreiche, ist mir schlecht vor Wut und Grauen. Ich parke auf dem Lehrerparkplatz und gehe schnurstracks zu Freys Klassenzimmer. Sein Radar bemerkt mich, bevor ich die Tür erreiche.
Anna. Sie ist in Sicherheit.
Er steht auf dem Podium vor einer Klasse von etwa vierzig Schülern. Einzig diese Kinder halten mich davon ab, einfach reinzumarschieren und ihm die Kehle herauszureißen. Ich kann mir alle Informationen, die ich brauche, auch beschaffen, indem ich sein Blut trinke.
Das weiß ich , schickt er mir heraus. Also beruhige dich und hör mir zu. Trish ist in Sicherheit. Ich habe sie an einen Ort gebracht, wo man sie rund um die Uhr beschützen kann. Ich bringe dich nach der Schule zu ihr.
Du bringst mich jetzt gleich zu ihr.
Das geht nicht. Ich habe Schüler hier. Und du hast Wichtigeres zu tun. Geh zu Trishs Mutter. Finde heraus, wer Trish das angetan hat. Solange wir diese Männer nicht wegschließen, wird sie nie wieder sicher sein.
Während wir uns »unterhalten«, führt er drinnen mit normaler Stimme seinen Unterricht fort. Etwas über irgendwelche Satzteile. Ich beobachte ihn, beiße mir auf die Unterlippe, unsicher, was ich jetzt tun soll. Dann ist er wieder in meinem Kopf.
Schließ die Augen.
Was?
Schließ die Augen. Ich zeige dir, dass es Trish gutgeht.
Ich habe keine Ahnung, was für einen Trick er nun wieder abziehen will, aber ich folge seiner Anweisung und schließe die Augen. Ein Bild nimmt in mir Gestalt an, als würde es sich langsam entwickeln. Trish. Sie sitzt an einem Schreibtisch. Vor
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