Loderne Glut
etwa auf die Schippe nehmen? »Du hast deine Prüfung bestanden«, sagte er. »Nun geh und zieh dir ein anderes Kleid an. Nimm das malvenfarbene aus Seide. Mir gefällt das Kleid, das du anhast, ganz und gar nicht. Und richte deine Haare. Der Knoten löst sich bereits wieder auf. Nach dem Frühstück werde ich deine Näharbeiten kontrollieren.«
Er legte das Prüfungspapier auf den Tisch und verließ die Bibliothek so abrupt, daß Amanda annehmen mußte, der Grund seines Ärgers konnte nicht nur die Tatsache sein, daß sie hier in der Bibliothek geschlafen hatte. Vermutlich war es das leere Prüfungspapier, über das er nicht ein Wort verloren hatte.
Sie langte über den Tisch, nahm das Papier und starrte es verblüfft an. Sauber, wie gestochen, war jede Prüfungsfrage beantwortet in einer Schrift, die ihrer zum Verwechseln ähnlich sah. Selbst die Fünfer waren so geschrieben, wie sie es immer machte. Hatte sie etwa die Aufgaben im Schlaf gelöst?
Schon als sie diese Frage an sich richtete, wußte sie, daß das unmöglich war. Und während sie den Zettel anstarrte, wurde sie auf das zweite zusammengefaltete Papier aufmerksam, das in ihrem Schoß lag. Sie faltete es auseinander.
Teure Miß Caulden,
verzeihen Sie mir, daß ich mich in Ihr Leben eingemischt habe; ich tat Ihnen damit Unrecht. Die gelösten Prüfungsauf gaben können selbstverständlich meine Aufdringlichkeit nicht wiedergutmachen; aber ich hoffe, sie sind Ihnen wenigstens eine Hilfe.
Ich wünsche Ihnen und Ihrem Verlobten alles Gute für die Zukunft
Mit den allerbesten Empfehlungen Henry R. Montgomery
P. S.: Meinen Doktortitel habe ich nicht aus einem Versandhaus bezogen.
Amanda brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, daß Dr. Montgomery ihren Ruf bei Taylor gerettet hatte und der Tenor dieses Briefes nur bedeuten konnte, daß er das Haus verlassen hatte. Plötzlich war sie erleichtert. Er hatte damit seine Schuld an dem Schrecken der letzten Nacht ein wenig abgetragen, aber nichts, was er unternahm, konnte das vollends wiedergutmachen, was er ihr in den letzten Tagen alles angetan hatte.
Sie lehnte sich einen Augenblick zurück und seufzte beglückt. Nun konnte sie ihr Leben wieder in die geordneten, ruhigen Bahnen lenken, in denen es sich vorher befunden hatte. Nun konnte sie Taylor dazu bringen, daß er den Wunsch äußerte, sie zu ehelichen. Sie würde seine Anweisungen befolgen, seine Stundenpläne auf die Minute genau einhalten und unentwegt lernen. Und dann konnte es nicht lange dauern, bis er wieder vom Heiraten sprach, und nachdem sie den Ehebund eingegangen waren, würden sie .. . was? Würde sie damit fortfahren, Taylors Stundenpläne zu befolgen? Ihr Leben lang studieren? Würde sie am Morgen ein Kind zur Welt bringen und am Nachmittag eine Prüfung in der französischen Sprache ablegen?
Hör auf damit! befahl sie sich. Sie würde Taylor heiraten und ihn bis zum Ende ihrer Tage glücklich machen - das würde sie tun! Und sie wollte sofort damit anfangen, indem sie nach oben ging, ein anderes Kleid anzog und ihre Haare richtete.
Sie schob Dr. Montgomerys Billett in ihre Tasche und nahm sich vor, es in hundert Stücke zu zerreißen und diese in der Toilette hinunterzuspülen; aber als sie allein in ihrem Zimmer war, ertappte sie sich dabei, wie sie das Billett in der hintersten Ecke ihrer obersten Schublade versteckte -unter ihrer Unterwäsche. Sie entschuldigte ihr Tun vor sich selbst mit der Ausrede, daß sie das Papier vielleicht als Beweisstück brauchen würde - als Beweis für etwas, von dem sie jetzt noch gar nichts wußte - aber jedenfalls bewahrte sie es auf.
Sie ging zu ihrem Kleiderschrank, nahm das malvenfarbene Kleid heraus und runzelte die Stirn. Sie mochte diese Farbe nicht. Dieses blasse, bläuliche Purpur ließ ihre Haut gelbstichig und ihre Augen farblos erscheinen. Einem Impuls folgend, holte sie ihre Hutschachtel oben vom Kleiderschrank und entfernte das Seidenpapier, bis sie das mit Perlen besetzte weiße Satingewand erreichte, das sie gestern nacht getragen hatte. Sie hielt es vor sich hin und betrachtete sich im Spiegel. Der Saum aus Perlen sah beim Tanzen bestimmt prächtig aus.
Ihr Herz hätte fast ausgesetzt, als Mrs. Gunston wie üblich nur kurz anklopfte und dann sofort ins Zimmer kam. Amanda stand in ihrer Unterwäsche vor dem Spiegel und versteckte rasch das Satinkleid hinter ihrem Rücken.
»Sie sind noch nicht angezogen?« fragte Mrs. Gunston schockiert. »Sie hätten schon vor drei Minuten im
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