Loderne Glut
Schüsseln so lange an, daß sie keine Zeit fand, wieder zu verschwinden, ehe J. Harker sie bemerkte.
»Nun?« fragte Harker angriffslustig.
»Darf ich mich zu dir setzen?« hörte sie sich fragen und segelte dann buchstäblich auf den Tisch zu, ehe er ein Wort erwidern konnte. Ein Mädchen stellte einen Teller vor sie hin und legte das nötige Besteck dazu.
»Bist du hierhergekommen, um etwas zu erklären oder dich zu entschuldigen?« fragte er.
»Ich wollte lediglich etwas essen«, gestand Amanda und füllte ihren Teller. Sie hätte am liebsten mit beiden Händen gegessen; aber sie beherrschte sich.
Harker betrachtete sie einen Moment, und zum ersten Mal seit Jahren erschien ihm seine Tochter wieder wie ein menschliches Wesen. Denn in der Regel benahm sie sich sehr altklug und ließ ihn nur zu oft seine mangelnde Bildung fühlen. »Warum hat also der Professor das Haus verlassen?«
Amanda begrub ihren Löffel in den kandierten Karotten.
»Er wollte sich keinen Stundenplan aufzwingen lassen. Er mag Filme, Tanzveranstaltungen und Picknicks. Er kann Museen oder Vorträge über Eugenik nicht ausstehen. Auch hat ihm weder die Größe unseres Hauses noch unser Fuhrpark imponiert.« Amanda mochte kaum glauben, daß sie so mit ihrem Vater redete; aber vielleicht war es das köstliche Essen, das sie so unbefangen machte.
J. Harker dachte eine Moment über ihre Worte nach. »Und du konntest dich nicht dazu überwinden, mit ihm zum Tanzen zu gehen?«
»Ich bin ein verlobtes Mädchen und zudem hatte ich schon genug Schwierigkeiten damit, meine Vorbereitungen für die Museumsbesuche mit meinen anderen Studien in Einklang zu bringen.« Die Erbsen mit den kleinen Perlzwiebeln schmeckten himmlisch.
Harker beobachtete sie. In der Regel waren ihre Mahlzeiten winzig und außerordentlich unappetitlich, aber heute aß sie wie ein Scheunendrescher. Taylor hatte Amanda die Schuld dafür gegeben, daß Montgomery das Haus verlassen hatte, aber in diesem Moment fragte sich Harker ernsthaft, ob Amanda den jungen Professor nicht dazu gebracht hatte, überhaupt ein paar Tage hierzubleiben. Als Kind war sie wild und starrköpfig gewesen - genauso wie ihre Mutter —; doch dann hatte er Taylor engagiert, und binnen weniger Monate hatte sich Amanda in ein fügsames Wesen verwandelt. Zunächst hatte das Harker erleichtert zur Kenntnis genommen, aber mit den Jahren mußte er zusehen, wie sich Amanda zu einem affektierten und fügsamen kleinen Automaten entwickelte. Da hatte er angefangen, sich zu wünschen, sie möge sich doch wenigstens einmal auf einen ihrer ehemaligen Streiche besinnen. Aber er hatte zuviel zu tun, um sich mit der Erziehung seiner Tochter befassen zu können. Erst als sie schon zwanzig war und noch immer Verse aufsagte wie ein zehnjähriges Kind, hatte er ihren Anblick nicht mehr ertragen können.
Als er aber jetzt sah, daß sie zulangte wie ein Feldarbeiter, spürte er, daß sich etwas verändert haben mußte. Heute morgen erst hatte ihn Grace, die ihn gewöhnlich mied wie die Pest und ihn herzlich haßte, seit Taylor ins Haus gekommen war, angelächelt. Harker selbst betrachtete Taylor seit einiger Zeit mit anderen Augen. Er sah nicht mehr voller Ehrfurcht zu der Bildung des jüngeren Mannes auf und begann sich zu fragen, ob Taylor überhaupt so viel wußte, wie er und Amanda glaubten. Vor Jahren hatte Grace verlangt, daß Taylor das Haus verließ. Harker hatte sich damals aus Prinzip, wenn nicht sogar aus anderen Gründen, geweigert, ihn zu entlassen. Er hatte sich zu etwas entschlossen, und dabei blieb es - ob falsch oder richtig -, und als sich Grace daraufhin sogar geweigert hatte, mit ihm zu schlafen, solange Taylor mit ihr unter einem Dach wohnte, hatte er sich selbst dadurch nicht beeinflussen lassen. Doch heute morgen, als Grace ihm zulächelte, hatte er sich daran erinnert, was für eine gutaussehende Frau sie war, und sich gewundert, warum er sich eigentlich für Taylor und gegen seine schöne Ehefrau entschieden hatte.
»Bringen Sie noch ein Stück von dieser Pfirsichtorte herein«, befahl Harker dem Dienstmädchen. »Meine Tochter ist hungrig.«
Amanda schenkte ihm ein schwaches Lächeln. »Du glaubst nicht, daß ich davon dick werde?«
»Ich mag Frauen, die ein bißchen Fleisch auf den Knochen haben.«
»Das ist es, was . . . ich meine . . .«, stammelte sie, sich an das erinnernd, was Dr. Montgomery zu ihr gesagt hatte.
Unwillkürlich ging Amandas Blick zu dem leeren Stuhl ihr gegenüber und
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