Loderne Glut
dachte dabei: Er fehlt mir. Sie sagte sich, daß das ein törichter und ausgesprochen verwerflicher Gedanke sei. Trotzdem wollte ihr die Strafarbeit nicht aus dem Sinn gehen, die oben auf sie wartete, und sie wünschte sich, sie könnte mit Dr. Montgomery zu einem Picknick fahren. Nein! korrigierte sie sich: mit Taylor.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie Taylor sich auf einer Wiese ausstreckte, wie er mit einem Wagen fuhr. Sie wollte sich Taylor vorstellen, wie er ihr Haar wusch und sie dann küßte, aber es gelang ihr nicht, diese Bilder in ihr heraufzubeschwören.
J. Harker bemerkte, daß sie zu dem leeren Stuhl hinübersah, als erblickte sie ein Gespenst. »Du - äh - magst diesen Professor?«
Amanda richtete sich kerzengerade in ihrem Stuhl auf. »Er war ein ...«».. .ein frivoler Mann«, wollte sie sagen; aber er hatte Mitgefühl für sie gezeigt und die Art, wie er die Mathematikaufgaben gelöst hatte, bewies, daß er nicht ganz ungebildet war. »Er war ein ungewöhnlicher Mann«, sagte sie schließlich. »Vollkommen unberechenbar. Man wußte nie, was er im nächsten Augenblick anstellen würde.«
»Keine Stundenpläne, wie?« fragte J. Harker und beobachtete sie scharf.
Amanda lächelte. »Dr. Montgomery lehnt Stundenpläne prinzipiell ab. Er glaubt an die persönliche Freiheit für jedermann.«
Wenn sie so lächelte wie jetzt, erinnerte sie Harker so sehr an Grace, daß ihm die Knie weich wurden. Er hatte schon so lange einen Groll gegen seine Frau gehegt, daß er sogar imstande gewesen war, sie fast zu vergessen. Woher nahm sie die Dreistigkeit, ihm zu sagen, wen er anstellen durfte und wen nicht? Schließlich hatte sie ihn betrogen, weil sie ihm verschwiegen hatte, daß sie eine Tänzerin gewesen war, bevor sie heirateten. Und er hatte überall in der Stadt damit geprahlt, daß ihre Familie mit der Mayflower nach Amerika gekommen sei. Alle hatten über ihn gelacht.
Doch jetzt, da er Amanda betrachtete, erinnerte er sich an Graces schlanken, festen Körper. Sie war eine wunderbare Geliebte, aber er hatte das alles aufgegeben, als sie von ihm verlangt hatte, Taylor aus dem Haus zu werfen. Im Augenblick beherrschte ihn nur der Gedanke, daß sein eigensinniger Stolz ihn seine Frau und seine Tochter gekostet hatte.
»Weißt du, wo sich deine Mutter heute nachmittag aufhält?« fragte er unvermittelt.
»Ich? Nein, ich sehe sie nicht sehr oft.« Nicht, seit ich sie um Rat gefragt habe, ob ich Taylor küssen sollte, dachte sie, und die Erinnerung daran ließ sie erröten.
J. Harker schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Ich denke, ich werde sie suchen gehen.« Er bewegte sich zur Tür, drehte sich dort aber noch einmal um. »Vielleicht möchtest du heute abend mit mir essen.«
»Ja«, stimmte sie verwundert zu. »Das würde ich gern tun.«
Als sie allein war, warf sie wieder einen ratlosen Blick zu dem leeren Stuhl ihr gegenüber. Irgendwie war Dr. Montgomery die Ursache für diese Einladung. Er hatte zwar Schuld daran, daß sie fast vergewaltigt worden wäre - richtig —, aber er hatte auch bewerkstelligt, daß ihr Vater nun ihre Mutter aufsuchte und seine Tochter zum Dinner einlud. Natürlich, dachte sie und zog eine Grimasse, war er auch schuld daran, daß sie nun Moby Dick ins Griechische übersetzen mußte. Wenigstens jetzt, mit einem vollen Bauch, würde sie mit dieser Arbeit ein wenig vorankommen. Langsam stieg sie die Treppe hinauf zu ihrem stickigen Zimmer.
»Und Sie haben das in ihrem Zimmer gefunden?« fragte Taylor Mrs. Gunston, während er das zerrissene weiße Satinkleid in den Händen hielt, dessen Kristallperlen in der Sonne glitzerten.
»Ich wußte gleich, daß sie etwas vor mir verstecken wollte«, erklärte Mrs. Gunston auf ihre selbstgerechte Art. »Ich sah, wie sie den Arm in ihren Schrank hineinstreckte, und deshalb durchsuchte ich ihr Zimmer, nachdem sie nach unten gegangen war. Sie hatte es in Seidenpapier eingewickelt und in ihrer Hutschachtel versteckt. Es ist keines von den Kleidern, die Sie für sie gekauft haben, und wie Sie ja sehen können, ist es vorne zerrissen. Sie hat etwas getan, was sie nicht hätte tun sollen, und ich vermute, es hat etwas mit diesem Dr. Montgomery zu tun. Seit er in dieses Haus gekommen ist, gingen hier seltsame Dinge vor. Ich fand auch einen schmutzigen Teller, den sie in ihrem Zimmer versteckt hatte, und eine Tages . . .«
»Das reicht!« zischte Taylor scharf und knüllte das Kleid in seinen Händen zusammen. »Sie können jetzt
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