Löffelchenliebe (German Edition)
Familienmitglieder weilten alle im Urlaub, viel weiter weg als ich, Fernreiseziele, Sie wissen schon, und mein Opa mutterseelenallein mit einer Leiche. »Ich muss sofort zu ihm.« Meine Großeltern würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie mich so hören könnten.
»Aber, Sie können doch nicht … Was ist denn mit unserem …«, stammelt Herr Dahl.
Ich sehe zu Boden.
»In diesem Fall«, Herr Dahl hüstelt ein paarmal, »führt kein Weg daran vorbei, Sie müssen uns verlassen, Frau Brix. In wenigen Minuten erreichen wir unser Domizil. Unser Fahrer wird Sie dann postwendend wieder mit zurück nach München nehmen. Ach so, ja, mein herzliches Beileid.«
Als wir auf dem Parkplatz hinter dem Hotel stehen, eingerahmt von schroffen Felsen, und die Luft merklich dünner wird, als achtundvierzig Wanderer mit geschulterten Rucksäcken und eine Journalistin im orangefarbenen Sari ungeduldig von einem Fuß auf den anderen treten, räuspert sich Herr Dahl leise und sagt: »Wir haben wohl kein Glück miteinander.«
Trotz meiner Erleichterung, dem fünfzig Prozent sicheren Tod noch einmal von der Schippe gesprungen zu sein, bin ich gerührt, und natürlich fühle ich mich schuldig. »Ich verspreche Ihnen, Herr Dahl, ich werde die Geschichte trotzdem schreiben. Und: Aller guten Dinge sind ja bekanntlich drei. Wer weiß, vielleicht veranstalten Sie ja mal einen ValleyWalk für Senioren, die schlecht zu Fuß sind und nur noch im flachen Tal laufen können. Dann bin ich dabei !«
Herr Dahl lächelt traurig. Sein Atem hängt weiß in der kalten Luft.
Als der Busfahrer wendet, schnappe ich mir kurzerhand das Pärchen aus Reihe drei, das mich vorhin so freundlich angesehen hat, und bitte die beiden um ihre Telefonnummer. Ich werde mich gleich nach der Reise bei ihnen melden und atmosphärische Informationen aus erster Hand abgrasen, um meinem Artikel den Anschein zu geben, dass ich dabei war. Ich, Anna Brix, Überlebende des WalkForty-Eight.
Mit jeder Umdrehung, mit der sich der Bus den Berg hinabschraubte, lockerte sich der Würgegriff um meinen Hals, und die Enge in meiner Brust ließ langsam, aber sicher nach. Als wir schließlich auf die Autobahn auffuhren und der Fahrer endlich die Hüttenmusik abstellte, fühlte ich mich so leicht, dass ich frohen Mutes Hector ST zurückrief und mich mit ihm zwar nicht zum Abendessen, aber zu einem Absacker in seiner Hotelbar verabredete.
Ich selbst stieg in einem anderen, weit günstigeren Hotel ab. Seines besaß fünf Sterne und überstieg entsprechend meine finanziellen Kapazitäten. Außerdem fand ich, dass es komisch aussähe, wenn ich mich quasi nachträglich bei ihm einmietete. Zum Glück hatte ich für den Fall der Fälle, der auf dem Berg zugegebenermaßen relativ unwahrscheinlich gewesen wäre, ein Kleid eingepackt, das als Abendoutfit durchging.
Ich duschte mir den Angstschweiß ab und schminkte mich in aller Ruhe, während ich mir schon mal einen Piccolo aus der Minibar und ein paar California Rolls aus dem Sushi-Lokal nebenan genehmigte. Mit dem Hauch eines schlechten Gewissens, weil ich gleich einen fremden Mann in einer sicherlich schummrigen Hotelbar treffen würde, schrieb ich David eine SMS – »Komme doch schon morgen Mittag zurück, der Berg muss ohne mich auskommen. Freu mich auf dich, A.« –, auf die er fünf Minuten später antwortete: »Liebste, na, da bin ich ja gespannt, wie du dem ollen Berg entkommen bist. Bin morgen bis etwa sechs auf einer Klimaschutz-Demo, aber danach … Freu mich riesig auf dich. Küsse, D.«
Um 22.13 Uhr betrete ich im knielangen schwarzen Kleid mit schwarzen High Heels, die sich überraschenderweise auch noch in meinem Köfferchen befanden, die Bar und fühle mich, als wäre ich in einer Szene von Lost in Translation gelandet. Mit dem Unterschied, dass der Ausblick aus der meterhohen Fensterfront zwar überwältigend, aber eben München und nicht Leuchtreklamen-Tokio ist und dass Hector, der sich vom Barhocker erhebt, deutlich besser aussieht als der gealterte Bill Murray. Und ich deutlich schlechter als Scarlett … na, lassen wir das. Begleitet von leiser Klaviermusik schwebe ich im Halbdunkel, den Blick bewusst vom Ausblick abgewandt, auf meine Verabredung zu. Heute kann mir die Höhe nichts mehr anhaben, beschließe ich und meine zu spüren, wie die Blicke der männlichen Gäste, Geschäftsleute vorwiegend, meinen Gang mit Wohlwollen verfolgen. Der Weg über den dicken, weichen Teppich, das gedämpfte Licht, das feine Lächeln auf
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