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Löwenherz. Im Auftrag des Königs

Löwenherz. Im Auftrag des Königs

Titel: Löwenherz. Im Auftrag des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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er die beiden Bruchstücke an, die an der Sehne baumelten. Das lange Seil hing immer noch unerreichbar hoch in den Baumkronen links und rechts des Flusses.
    »Worauf wartest du denn noch?«, rief die Stimme des Ersten, der das Missgeschick offenbar nicht mitbekommen hatte.
    »Äh …«, stammelte der Bogenschütze.
    Edith begann etwas zu ahnen. Sie rief laut: »Kommt doch und holt uns, wenn ihr was von uns wollt!«
    »Warum sollten wir was von Euch wollen, Mylady?«, rief der Anführer der grauen Gestalten. »Wir haben Eure Pferde und Eure ganze Ausrüstung.«
    »Aber das Geld«, erwiderte Edith und klimperte mit den wenigen Münzen in ihrer Gürteltasche, »haben wir.«
    »Kommt aus dem Wasser, dann können wir verhandeln.«
    »Worüber willst du denn verhandeln?«, fragte Edith. »Ihr seid auf dem Trockenen, habt all unsere Sachen und seid bewaffnet, und wir stehen bis zu den Knien im Wasser und frieren. Ich denke, die Verhandlungspositionen sind klar.«
    »Na also!«
    »Dann kommt und holt uns!«
    »Die meint’s ernst, Johnny«, sagte der Bogenschütze.
    »Was hast du vor, Edith?« flüsterte Robert. »Wenn wir nicht bald ans Ufer kommen, dann …« Er hob einen Fuß, wie um zu zeigen, welchen Schaden das kalte Wasser bereits angerichtet hatte. Er verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen. Edith sah noch seine aufgerissenen Augen und seinen zu einem großen O geformten Mund – dann fiel er um, rollte die Steinstufen hinunter, schlug prustend um sich und kam in ruhigerem Wasser triefend und schlotternd auf die Beine. Hände streckten sich ihm entgegen. Er ergriff sie und wurde ans Ufer gezogen.
    »Oh, Mist«, sagte er dann zähneklappernd, als er merkte, dass die rettenden Hände keine Anstalten machten, ihn wieder freizugeben.
    »Wir haben jetzt deinen Bruder, Mylady«, rief der Unsichtbare, den der Bogenschütze ›Johnny‹ genannt hatte.
    »Aber ich habe immer noch das Geld«, antwortete Edith. »Und mir gefällt es außerordentlich gut hier mitten im Fluss.«
    Es kam keine Antwort, doch Edith glaubte, das Murmeln einer hastigen Beratung zu vernehmen. Dann trat jemand hinter einem Baum hervor und stellte sich am Ufer in Positur. Er trug die gleiche Gewandung wie alle anderen: einen formlosen grauen Umhang mit einer Kapuze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Er schlug die Kapuze zurück. Er war nur ein Junge, genau wie Edith geahnt hatte. All die geheimnisvollen Angreifer waren Jungen. Den hier kannte sie – es war der Gänsebursche mit dem krausen Haarschopf aus der Herberge. Und jetzt wusste sie auch seinen Namen: Johnny.
    Johnny räusperte sich und versuchte es mit Vernunft. »Jetzt kommt schon raus, Mylady. Gib uns das Geld und das Maultier, dann könnt ihr die Pferde und den Rest behalten!«
    Edith stemmte die Hände in die Hüften. »Weiß deine Mutter, dass du hier bist?«
    Johnny blieb der Mund offen stehen.
    »Wie alt bist du überhaupt?«
    »Ich bin ein Mann!«, stieß Johnny hervor. »Kommt jetzt raus, Mylady, sonst werde ich sauer.«
    »Komm und hol mich, Johnny! Wie soll ich dich nennen? Johnny-der-unter-den-grünen-Blättern-lebt? Hm? Komm und hol mich!«
    Johnnys Gesicht verfinsterte sich. Er stieg in den Fluss und stapfte die wenigen Schritte zu Edith. Sie starrten einander an.
    »Woher kennst du denn meinen Namen?«, zischte Johnny. »Die Jungs nennen mich tatsächlich Johnny Greenleaf.«
    »Äußerst fantasievoll«, sagte Edith.
    Johnny Greenleaf war etwa so groß und so alt wie Edith selbst. Seiner Kleidung und seinem Wuchs nach kam er aus einer Pächterfamilie. Kinder schossen nicht gerade in die Höhe bei der kargen Kost, die ein armer Bauer auf den Tisch brachte. Der Junge hatte ein breites, offenes Gesicht und Sommersprossen auf der Nase. Sein krauses braunes Haar hatte wahrscheinlich das letzte Mal Bekanntschaft mit einem Kamm gemacht, als sein Besitzer noch mit den Milchzähnen kämpfte. Johnnys braune Augen funkelten zornig, aber Edith konnte auch ein Quäntchen Angst darin erkennen.
    »Du kommst jetzt mit!«, sagte Johnny Greenleaf, sichtlich bemüht, unbeeindruckt zu wirken. Dann griff er nach ihr.
    Edith bückte sich, packte ein in einer vielfach geflickten Hose steckendes Bein und zog kräftig daran. Johnny Greenleaf kippte nach hinten, aber noch im Fallen hielt er sich an ihr fest. Gemeinsam platschten sie ins Wasser und traten den Weg über die Steinstufen an. Edith kämpfte gegen Johnnys Griff, aber er hielt sie so fest, als ginge es um sein Leben. Sie wurden

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