Löwenherz. Im Auftrag des Königs
da rüber?«, fragte Edith.
»Wir müssen eine Furt finden.«
»Und zwar bevor es Nacht wird. Da vorne sieht es so aus, als ob das Wasser über eine Steinterrasse fließt. Von dort kommt auch das Rauschen, das wir gehört haben.«
Sie suchten sich ihren Weg zwischen den dicht stehenden Bäumen hindurch zu der Uferstelle. Edith lehnte sich aus dem Sattel.
»Sieht so aus, als würden auch andere Leute diese Stelle als Furt benutzen. Hier kommt ein kleiner Pfad aus dem Wald und der Boden ist zertrampelt.«
»Siehst du?« Robert grinste triumphierend.
Die Pferde schnaubten und scheuten und waren durch nichts zu bewegen, ihre Reiter durch die Furt zu tragen. Zähneknirschend stiegen Edith und Robert ab und zerrten zuerst das eine, dann das andere Tier über die flache Stelle. Das Wasser reichte ihnen an seiner tiefsten Stelle nicht einmal bis zu den Knien, aber die Pferde stampften und spritzten die beiden voll. Das kalte Nass lief ihnen oben in die Reitstiefel. Schnell waren ihre Kleider völlig durchweicht.
Das Maultier war als Letztes dran. Maultiere galten in der Regel als besonders ruhig und gleichmütig, aber dieses Tier schien völlig aus der Art geschlagen. Es war so wasserscheu wie eine Katze und stemmte sich mit aller Kraft gegen jeden Schritt vorwärts. Als sie es endlich in der Mitte des Flusses hatten, keuchten Edith und Robert vor Anstrengung.
»Eintopf«, stieß Robert hervor. »Wir sollten das Vieh ›Eintopf‹ nennen. Denn dort wird es landen, wenn wir nur erst in London angekommen sind.«
Eintopf rollte mit den Augen und schien die Flussüberquerung deutlich schrecklicher zu finden als die Aussicht, zu einem Abendessen verarbeitet zu werden.
»Irrtum!«, rief eine Stimme zwischen den Bäumen hervor. »Dort wird es heute Abend noch landen!«
Edith und Robert erstarrten. Eintopf nutzte die Gelegenheit, um sich loszureißen und katapultierte sich mit ein paar Bocksprüngen wieder ans Ufer zurück. Zwei graue Gestalten huschten zwischen den Baumstämmen hervor und griffen sich die Zügel.
Am gegenüberliegenden Ufer wieherten die Pferde. Edith fuhr herum. Andere graue Gestalten hatten die Reittiere in Besitz genommen. Roberts Hand fuhr sofort an seinen Gürtel.
»Hier!«, rief eine der Gestalten und hielt das Kurzschwert hoch, das am Sattel seines Pferdes gehangen hatte. »Komm und hol’s dir!«
Robert schrie: »Fass das nicht an, das ist meins!«
»Jetzt nicht mehr.«
»Sei kein Narr!«, brummte Edith. »Wir stehen hier wie zwei Zielscheiben im Wasser. Sie brauchen nur deinen Bogen zu nehmen und uns mit deinen eigenen Pfeilen abzuschießen wie zwei gelähmte Enten.«
»Deine Freundin hat Recht, Mylord!«, rief die spöttische Stimme.
»Sie ist nicht meine Freundin, sondern meine Schwester!«, brüllte Robert.
»Trotzdem hat sie Recht, Mylord.«
»Meine Bogensehne hab ich in der Tasche«, sagte Robert halblaut zu Edith. »Es besteht also keine Gefahr, dass sie uns erschießen.«
»Aber vielleicht haben sie ja selber Pfeil und Bogen!«
Robert kniff die Lippen zusammen und wurde still.
Im selben Augenblick trat einer der Fremden ans jenseitige Ufer und spannte seinen Bogen. Edith spürte, wie die Kälte, die mit dem Wasser in ihre Stiefel gedrungen war, plötzlich ihren ganzen Körper erfasste. Sie schluckte.
Der Pfeil flog in hohem Bogen über sie hinweg und blieb in einer der Baumkronen am anderen Ufer hängen. Eine Schnur zog sich von dort bis zu dem Bogenschützen. Sie hing mindestens drei Mannslängen hoch.
»Schnappt euch das Seil und hangelt euch daran aus dem Wasser«, sagte die Stimme des ersten Angreifers. Edith konnte ihn immer noch nicht sehen. »Auf meine Seite, wenn ich bitten darf.«
Edith und Robert starrten zu dem unerreichbaren Seil hoch. Der Bogenschütze räusperte sich betreten. Ein paar Herzschläge lang herrschte Schweigen.
»Schieß noch einen Pfeil, du Hanswurst!«, sagte dieselbe Stimme, aber bedeutend leiser.
»Wir haben kein Seil mehr, Johnny«, sagte der Bogenschütze.
»Hol das Seil ein, das du verschossen hast, Himmel noch mal!«
Der Schütze warf sich den Bogen über die Schulter und zerrte an dem Seil. Im nächsten Moment fiel er auf den Rücken. Es knackte. Der Schütze hielt das kurze Endstück des Seils in der Hand, das zur Verlängerung an das andere Teil geknotet gewesen war. Der Knoten hatte sich gelöst. Der Schütze ließ das Endstück verlegen fallen. Dann stand er auf und bemerkte, dass er seinen Bogen zerbrochen hatte. Verdutzt starrte
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