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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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junges Mädchen, weil ihre Tochter es geschafft hatte. Ihr Stolz machte mir Mut.
    Ich musste weiter meinen Weg gehen und um die Kinder kämpfen. Das naive junge Mädchen, als das mich Abdullah aus der Familie geholt und nach Deutschland gebracht hatte, gab es nicht mehr. Vorbei. Seine Schläge und Demütigungen hatten mich nicht zerstört, sondern aufgeweckt. Und die Trauer um meine entführten Kinder hatte sich in Wut verwandelt. Immer deutlicher spürte ich, was gut für mich war und was ich wollte.
    Ich bin keine verlassene Ehefrau mehr, sondern eine Frau, die für sich selbst geradestehen kann. Und nicht nur das: eine, die für ihre Kinder sorgen kann. Ich würde um nichts mehr bitten, sondern fordern. Und wenn ich den Richter höchstpersönlich aufsuchen musste.

    Das Gericht ist ein heruntergekommenes zweigeschossiges Kolonialgebäude am Rand der Stadt. Es steht gleich neben dem Gefängnis und ist von einer hohen weißen Mauer mit Stacheldraht umgeben. Gelblich verdorrter Buchsbaum und Efeu klammern sich an der Mauer fest. Staubig und voller Dreck. Es ist nicht weit von unserem Haus entfernt, nur den Weg den Berg hinunter, dann rechts, vielleicht 300 Meter.
    Es ist kalt, und der Wind wirbelt Müll durch die Straßen. Ziegen mit bimmelnden Glöckchen um den Hals stürzen sich darauf, sobald er sich in Disteln und Mauerresten verfängt. Schon von weitem sehe ich die Menschenschlange, die sich vor dem schweren braunen Holztor des Gerichtsgebäudes gebildet hat. Es sind Leute, die teilweise von weit her gekommen sind. Zweimal pro Woche, Dienstagnachmittag und Donnerstagvormittag, hält der Staatsanwalt, le Procureur de la République, eine Sprechstunde ab, bei der dringende Angelegenheiten vorgetragen werden können. Es geht um Ehestreitigkeiten und Nachbarschaftsstreitereien, gestohlene Schafe oder Land, das zurückgegeben werden muss, es geht um Pferde, Kinder und Frauen, aber auch um Leben und Tod, Familienfehden und Ehrenmorde.
    Die Menschen kommen an Krücken und mit Verletzungen. Ich sehe einen alten Vater mit einem Arm im Gips, den ihm sein Sohn gebrochen hat, und eine junge Frau mit ihrer Mutter, die kaum noch gehen kann, weil sie von ihrem geschiedenen Mann verprügelt wurde. Da ist auch ein traurig blickendes Mädchen mit seinem Vater und einem fremden Mann. Sicherlich will sich der Vater eine richterliche Erlaubnis holen, um seine minderjährige Tochter zu verheiraten. Ich sehe das Mädchen schon vor mir, wie sie vom Staatsanwalt gefragt wird, ob sie heiraten will. Dann blickt sie vom Vater zum Bräutigam und wieder zurück. Sie hat nichts zu sagen, keine Chance. Ein Nicken – und verkauft ist sie. Kurz und schmerzvoll. Die Arme! – Mir ist zum Heulen.
    Ich stellte mich in die Reihe und wartete. Als eine von ihnen. Es waren vielleicht zehn Leute vor mir, nach mir noch einmal so viele. Alte, gegerbte, verlebte Gesichter und junge, glatte Engelsgesichter. Wir sahen uns nicht in die Augen, wir waren alle mit unseren eigenen Problemen beschäftigt. Zwei Männer in Kaschabia mit Kapuzen über dem Kopf unterhielten sich leise, ein Mädchen vor mir schluchzte und kaute nervös an ihren Fingernägeln. Sie war jung, vielleicht 15, hatte ein bleiches Gesicht, helle Augen, einen breiten Mund. Einen dunklen Mantel trug sie wie eine alte Frau. Was sie hier will? So allein?
    Ich bot ihr ein Taschentuch an, als ich merkte, dass sie ihre Manteltaschen nach einem durchsuchte. Ein paar andere hatte sie bereits zerknüllt und in Richtung der Mauer geworfen, wo sie der Wind lustig hin und her scheuchte. »Hier bitte«, sagte ich, »ich hab noch jede Menge Taschentücher.« Ohne mich anzusehen, murmelte sie etwas wie »Danke«. – »Wartest du auf deinen Vater?«, fragte ich, um etwas zu sagen. Das Mädchen schüttelte den Kopf, und die Tränen schossen ihm in die Augen. »Entschuldigung«, sagte ich, »aber was ist denn?« – »Der Vater«, stieß es hervor, »der Vater will mich mit einem Mann verheiraten, den ich noch nie gesehen habe. Aber ich will nicht.« Wie mutig es von ihr ist hierherzukommen!, dachte ich. Ich hakte das Mädchen unter und zog es ein wenig zu mir heran. Es zögerte einen Moment, sagte dann aber: »Ich habe einen Freund, der mit mir zur Schule geht. Wir wollen studieren und später heiraten.« – »Bist du deshalb hierhergekommen?« Sie nickte. »Woher weißt du, dass man dir hier helfen kann?« – »Weiß ich nicht, aber meine Mutter hat mich geschickt.« – »Mein Gott, du hast eine tolle

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