Loewenmutter
Mutter. Ich bewundere sie.«
Wir setzten uns auf den löchrigen Asphalt vor dem Tor. Da fing die junge Frau an zu erzählen, dass ihre Mutter erst mitkommen wollte, aus Angst vor dem Vater aber doch zu Hause geblieben sei. Auf keinen Fall dürfe er erfahren, dass sie die Tochter angestiftet habe, sich zu wehren. Die Mutter leide selbst bis heute darunter, dass sie an einen fremden Mann verheiratet worden sei. »Sie will, dass ich es einmal besser habe als sie.« – »Ja, das sollst du auch«, erwiderte ich leise. »Schon weil du solch eine mutige Mutter hast. Wenn meine nur damals auch so gewesen wäre.« Da schaute sie mich an und fing wieder an zu weinen.
Inzwischen war es Abend geworden. Der Wind hatte zugenommen, und die meisten Menschen vor uns waren verschwunden. Ich hatte nicht darauf geachtet, ob sie bei Gericht vorgelassen wurden oder sich auf den Heimweg gemacht hatten. Aber plötzlich hörte ich: »Geschlossen! Das Gericht ist geschlossen!« Ich erschrak. Bedeutete das, dass wir uns den halben Tag vergeblich hier angestellt hatten? »Kommt zum nächsten Sprechtag wieder«, rief ein Pförtner, der in blauer Uniform und roter Kappe vor das Tor getreten war. »Nein bitte, lassen Sie mich ein, es ist sehr dringend«, begehrte das Mädchen nun auf. »Bei wem ist es nicht dringend, junge Dame?«, entgegnete der Mann. »Geh nach Hause und komm übermorgen wieder, wenn es dann immer noch so dringend ist.« – »Dann ist es nicht mehr dringend, sondern zu spät«, bettelte es verzweifelt. »Hör mal zu, Gerichtsdiener«, ergriff ich nun aufgeregt das Wort, wild mit den Armen gestikulierend. »Wenn das Mädchen deine Tochter wäre und weint, würdest du da nicht eine Ausnahme machen?« – »Ich bin aber nicht ihr Vater.« – »Aber sie ist wirklich in einer Notlage und muss zum Staatsanwalt, glaub mir, es geht um Leben und Tod. Heute noch!« – »Ich weiß nicht, ob der Staatsanwalt nicht schon gegangen ist. Es ist Feierabend, aber meinetwegen soll sie es versuchen. Aber nur, weil du für sie gesprochen hast.« – »Allah sei mit dir«, antwortete ich. »Vielleicht bleibt ihr erspart, was mir nicht erspart geblieben ist.«
Zwei Tage später war ich bereits vor Sonnenaufgang beim Gericht. Zwei Stunden zu früh, doch heute musste mich der Staatsanwalt einfach anhören. Und wenn ich mich vordrängen oder die ganze Schlange vor mir niederrennen musste, dieses Mal würde ich mich nicht mehr abweisen lassen. Ich war tatsächlich die Erste. Als der Pförtner die Tür aufschloss, fiel ich ihm fast entgegen. Ich hatte mich angelehnt und war ein wenig eingedöst. »Du schon wieder? Hast du hier übernachtet?«, fragte er überrascht. »Ja«, entgegnete ich frech. »Es ist nicht die erste schlaflose Nacht, die ich wegen meiner Kinder verbringe. Höchste Zeit, dass das aufhört.«
Im Gebäude war es still, ein langer Gang mit grauem Linoleumboden, in den kein Tageslicht fiel. Zu beiden Seiten schwere dunkle Türen aus Kastanienholz, darüber Stuck und Verzierungen. Der Pförtner bedeutete mir, auf einem der aufgereihten Stühle Platz zu nehmen und zu warten. Dann ging er langsam weg und kam nach ein paar Minuten wieder, deutete mit der Hand auf eine der Türen und sagte: »Hab Geduld, es kümmert sich gleich jemand um dich.« »Gleich« dauerte noch einmal eine halbe Stunde, aber dann führte er mich zu einem der Zimmer, klopfte und schob mich, ohne das »Herein« abzuwarten, hinein. Ich musste zuerst ein wenig blinzeln, bis ich erkannte, wo ich war. Ein großer, heller Raum, in den durch schmale Schlitze weit oben an der Wand das Tageslicht wie Scheinwerferlicht fiel. Mir gegenüber saß ein Mann mit pechschwarzen Haaren und einem kleinen Bärtchen, Manschettenknöpfe an den weißen Hemdsärmeln, die unter der Uniform hervorlugten. Er war kaum älter als ich, aber eine Respektsperson. Die Beine weit von sich gestreckt, hatte er sich an seinem Schreibtisch zurückgelehnt. Direkt neben ihm hatte ein älterer Herr in blauer Uniform vor einer Schreibmaschine Platz genommen und den Kopf in die Hand gestützt. Auch die Schreibtische waren aus schwerem Kastanienholz, wahrscheinlich stammten die Möbel noch aus der Zeit, als die französische Armee hier ihre Garnison stationiert hatte.
Ich merke, wie mir heiß wird und sich rote Flecke auf meinem Gesicht ausbreiten. Es ist ein wichtiger Termin, vielleicht der allerwichtigste für mich in diesem Prozess. Wenn es unserem Rechtsanwalt nicht gelingt, dem Staatsanwalt den Fall
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