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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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lehnen sie lässig mit einem Fußball unterm Stollenschuh am Geländer eines Spielfeldes, so habe ich sie nie gesehen. Es ist an mir vorbeigegangen, als ob ich nicht mit ihnen zusammengelebt hätte. Ein kompletter Blackout. So schade. Wo war ich nur in dieser Zeit?
    Meine Tochter wollte nicht auf die Welt kommen. Als ob sie etwas geahnt hätte. Wahrscheinlich hat sie meine Verzweiflung gespürt. Eine schwere Geburt. Als die Kinderkrankenschwester mit dem frisch gebadeten und in weiße Handtücher gewickelten Baby auf mich zukam, wehrte ich sie mit ausgestreckten Armen ab: »Nein, weg, nein. Bitte, ich will nicht.« Ich hatte nicht die Kraft, mein Kind anzunehmen. Die Schwester blieb am Fußende des Bettes stehen. »Eine hübsche Tochter«, sagte sie und sah mich an, wie ich unter meiner weißen, leichten Decke lag, die ich bis zum Kinn gezogen hatte. Und sie verstand mich, obwohl ich nur ein paar Worte gesagt hatte. Sie sah auf das Kind, sah zu mir, presste die Lippen zusammen und machte kehrt. Sie muss mein Entsetzen und meine unendliche Hoffnungslosigkeit gespürt haben. Und sie ließ mich alleine, Gott sei Dank. Sodass ich hemmungslos in mein Kissen heulen konnte, endlich wieder weinen, so lange, bis ich ganz rote Augen hatte. Als die Schwester nach zwei Stunden wiederkam, es war die gleiche, fragte sie nicht lange, sondern legte mir meine Tochter behutsam auf den Bauch. Nein, sagte ich leise und drehte meinen Kopf zur Seite. Ich sah sie nicht, aber ich spürte sie, wie regelmäßig sie atmete, spürte, wie sich ihre Brust hob und senkte, fühlte ihre winzigen, weichen Finger an meinem Hals, als ob sie mich umarmen wollte. Da konnte ich nicht anders und musste sie mir ansehen.
    Es war wie ein Geschenk: Ihre blonden Locken und ihre dunklen, großen Augen, die mich ansahen. Ich fuhr mit meinen Händen über ihren Kopf. Wie schön und unschuldig mein Mädchen war. Und sie gehörte zu mir. Amal, dachte ich, und ein leichtes Gefühl, das ich aus den Sommerabenden meiner Kindheit kannte, durchflutete mich. Amal, die Hoffnung, meine Tochter sollte Amal heißen. Eine Freundin aus der Grundschule hatte so geheißen. Von Anfang an hatte ich sie lieb gehabt, obwohl ich keine Freundin haben durfte. Der Vater hatte es verboten, nicht einmal zu ihr gehen durfte ich. »Komm zu mir, ich darf nicht«, hatte ich deshalb eines Tages zu ihr gesagt. Sie kam auch, doch als der Vater spätnachmittags von der Arbeit heimkehrte, schickte er sie weg. Das tat mir so leid, und ich habe das Mädchen nie vergessen.

Raus ins Freie
    Amal war ein paar Monate alt, als Abdullah eines Morgens die beiden Jungs schnappte und sie ins Auto setzte. Um sie wie immer zum Kindergarten zu bringen, dachte ich. Ich war damit beschäftigt, mich um das Baby zu kümmern, was nicht einfach war in dieser kalten Wohnung. Ständig musste ich Wasser kochen und wieder abkühlen lassen: für die Wäsche, das Bad, das Fläschchen. Als Abdullah an diesem Tag gegen Mittag nach Hause kam, ich war gerade dabei, Amal zu wickeln, da sagte er unvermittelt: »Soll ich dich hinfahren?« – »Wohin?« – »Zu den Kindern.« – »Sind sie nicht im Kindergarten?« – »Nein, im Krankenhaus.« – »Was?« – »Ich habe sie zur Beschneidung gebracht. Sie sind wach. Du kannst sie jetzt sehen.« – »Das ist nicht wahr.« – »Doch, du kannst sie jetzt sehen.« Das konnte nicht sein Ernst sein! Er hatte unsere Söhne ohne mich ins Krankenhaus gebracht und den Eingriff vornehmen lassen. Ohne dass ich mich richtig besann, begann ich zu schreien: »Warum hast du das gemacht? Ohne mich. Wie kannst du den Kindern so etwas antun und sie dann alleine lassen? Das kannst du doch nicht machen, herzloses Schwein.«
    Immer wieder hatte Abdullah von der Beschneidung Amins und Jasins gesprochen. In Tunesien wird diese rituelle Reinigung normalerweise bald nach der Geburt vorgenommen und mit einem großen Familienfest gefeiert. Doch das wollte mein Mann nicht. Die Verwandtschaft sei zu groß, hatte er eingewandt, man könne nicht alle einladen. Viel zu teuer. Nach meiner Meinung fragte er nicht. Ich hatte auch nichts dazu zu sagen.
    Aber jetzt war ich wütend, so wütend, wie ich mich selbst noch nie erlebt hatte. Ich raufte mir die Haare und schrie, sodass Amal zusammenzuckte und zu weinen begann. Ohne Windel, nackt wie sie war, legte ich sie in ihre Wiege im Wohnzimmer. Dann ballte ich die Fäuste und ging auf meinen Mann los. Er setzte sich aufs Sofa und zündete sich eine Zigarette an.

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