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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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Fast schien es mir, dass er lachte. Ich wollte ihn schlagen, aber ich schlug nicht, den Mut hatte ich nicht. Stattdessen schlug ich meinen Kopf gegen die Wand. Einmal, zweimal. »Tu dir nicht weh«, sagte Abdullah höhnend über die Schulter, als er aufstand und in Richtung Tür ging. »Doch, das tut weh«, schrie ich außer mir. »Sei froh, dass ich alles organisiere und dir abnehme! Ich trage die Verantwortung für meine Kinder. Nicht du. Alles klar?«
    Dann fiel die Tür ins Schloss.
    Er hatte recht, ich hatte es nicht gelernt, Verantwortung zu übernehmen, nicht einmal für mich selbst: Wer war ich? Ein Nichts. Meine Stirn blutete, ich wischte mit der flachen Hand darüber. Es brannte, auch meine Lippen waren aufgesprungen. Ich weiß nicht, wie lange ich einfach so dastand und vor mich auf den Boden starrte. Das Weinen von Amal brachte mich in die Realität zurück. Sie hatte Hunger, und ihr Bett war nass. Reiß dich zusammen, dröhnte es in mir. Du machst jetzt Amal trocken, stellst Wasser auf, löffelst Milchpulver ins Fläschchen, schüttest heißes Wasser drüber. Dann: schütteln, abkühlen lassen, Sauger draufschrauben, fertig. Wie die Verse eines Gedichts sagte ich mir jede einzelne Aktion vor. Denken konnte ich nicht, aber ich funktionierte, Schritt für Schritt. Die Kinder brauchten mich! Ich bezog Amals Bett neu und gab ihr das Fläschchen. Während sie dann über meiner Schulter einschlief, überkam mich eine große Traurigkeit. Warum hat mein Mann mich nicht in seine Pläne eingeweiht und die Kinder mit ihren Schmerzen alleine gelassen? Er tat, als gehörte ich nicht zur Familie.

    Abdullah hatte Amin inzwischen in der Schule angemeldet. Er überraschte uns damit, indem er eines Tages mit einem Schulranzen auf dem Rücken nach Hause kam: »Nächste Woche fängt die Schule an, Amin.« Der Junge freute sich. Am Tag der Einschulung hupte Abdullah morgens ungeduldig vor der Tür. Obwohl die Grundschule höchstens 200 Meter entfernt von unserer Wohnung lag, wollte der Vater mit dem Auto fahren. Ein neuer, silberfarbener Mercedes. Angeber! Ich setzte mich mit Jasin und Amal nach hinten, Amin vorne. Er war so stolz.
    Die Schule war ein weiter, luftiger Bau inmitten einer grünen Rasenfläche, schwarze Vogelsilhouetten klebten auf den großen Fensterscheiben. Von innen habe ich das Gebäude nie gesehen. Die Abc-Schützen, Eltern und Großeltern standen schon alle im Schulhof, als wir direkt am Zaun vor dem Schulgelände anhielten. Das Gras roch frisch, ein Geruch, den ich zum ersten Mal in Deutschland wahrnahm. Es war am Vortag gemäht und noch nicht zusammengerecht worden.
    »Bleibt sitzen«, rief mein Mann über die rechte Schulter, »bin gleich wieder da«, und sprang aus dem Auto. Amin auch. »Inschallah«, rief ich ihm hinterher, blieb aber sitzen wie geheißen. Mit langen Schritten ging Abdullah, er trug ein schwarzes Sakko und Krawatte, das nahm ich jetzt erst wahr, auf eine Frau zu, die bei den Kindern stand. Er grüßte sie mit Handschlag, es musste die Lehrerin sein, sprach ein paar Worte mit ihr und kam tatsächlich gleich wieder zurück. Ich sah die Kinder und wie sie mit beiden Händen ihre schönen bunten Tüten vor sich hertrugen. Amin stand dazwischen, er war kleiner als die anderen und dünner. Wie er so dastand und ganz, ganz verloren wirkte in seinem weiß-blauen Matrosenanzug. Er war der Einzige ohne Schultüte. »Warum hat Amin keine?«, fragte ich mich. Er tat mir so leid.
    Ich musste endlich Deutsch lernen, dann konnte ich meine Kinder selbst ins Krankenhaus oder zur Schule bringen, wenn es notwendig war. Doch als ich Abdullah wenig später nach einem Kurs fragte, wiegelte er ab. »Wozu? – Keine Zeit.« Ich war nur für Essen und Wäsche zuständig. Morgens schmierte ich meinen Kindern die Pausenbrote. Aber wenn sie mittags nach Hause kamen, fragte ich nicht: »Wie war’s in der Schule?« Einfache Fragen, die ich nicht stellen sollte. »Was habt ihr heute gelernt?« Wenn meine Kinder mich fragten, ob sie nachmittags zu einem Freund gehen dürften, antwortete ich »Weiß ich nicht« oder »Fragt den Vater«. Wünschten sich meine Kinder neue Schuhe, einen Ball oder Jeans, das Gleiche: »Fragt den Vater« oder »Ich muss euren Vater fragen.« Ich habe nie mit ihnen über Dinge gesprochen, die außerhalb des Hauses passierten. Das hatte mich nichts anzugehen.
    Aber ich wollte weg. Raus, nicht mehr die Welt vom Fenster aus beobachten, sondern mit anderen Leuten zusammen sein, Geld

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