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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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sprach, streckte er mir die Pässe entgegen. »Schau selbst, ein Pass fehlt.«
    Ich bin viel zu erschrocken, um die Papiere zu nehmen. Kann nicht sein, denke ich, nein, wo soll der vierte Ausweis denn hingekommen sein? Ich habe ihn doch gar nicht mehr in der Hand gehabt. Nicht mehr woanders hingeräumt. Er muss da sein. Ich knie mich neben die Tasche, fasse wieder hinein. Vielleicht klebt der Ausweis ja an der Plastikwand? Hektisch streiche ich am Boden und an den Seiten entlang. Aber nichts. Ich sehe Abdullah an, dann die Tasche, drehe sie um. In mir dreht sich alles, das darf nicht wahr sein. Mein Mann hat mir die Papiere anvertraut, und nun ist ein Pass weg!
    Es juckt, ich fange an, mich zu kratzen, der Schweiß läuft mir an den Beinen herunter. Ich stelle die Tasche auf den Kopf und schüttele sie aus wie einen Teppich. Schlage und klopfe, aber nichts. Wo ist bloß dieser verdammte Ausweis? Er kann doch nicht weg sein. Ich erinnere mich genau, dass ich alle Papiere zusammen verstaut habe. Sorgfältig, weil mein Mann sie mir zum ersten Mal, seit wir verheiratet waren, in die Hand gegeben hatte. Ich weiß, wie wichtig sie sind. Mir bleibt die Luft weg.
    Abdullah hat die Arme über der Brust verschränkt, seine buschigen Augenbrauen hochgezogen. »Immer mit der Ruhe«, sagt er leise, während er die Pässe und Tickets in seiner Hand wiegt. Lächelt er mich an? Nein, bitte lieber Gott, lass das nicht wahr sein! Ich gehe zum Schrank, wühle in unseren Kleidern, dann in den Rucksäcken der Kinder, die vor dem Schrank abgestellt sind. Nichts. Ich gehe zurück, wieder auf die Knie, schüttle wieder die Tasche aus. Sitze auf dem Boden, wühle, schüttle, wühle. Morgens hatte ich noch unbeschwert mit den Kindern gespielt und ihre Hände mit Henna bemalt. Und jetzt? Eine Katastrophe. Die Kinder hatten sich über meine schönen Schnörkelmuster auf ihrer Haut gefreut und wollten sie unbedingt ihren Hamburger Freunden zeigen.
    Ich sehe, wie mein Mann einen Pass nach dem anderen durchblättert: »Das ist der von Amin, hier der von Jasin und noch der von Amal. Deiner fehlt.« Nicht zu fassen. Gleich wird er mich umbringen. Aber Abdullah tut nichts, im Gegenteil. »Wenn du hierbleiben willst, dann sag es doch gleich«, seine Stimme klingt höhnisch, während er die Pässe gegen seine Schenkel klopft. Das kann nicht sein Ernst sein. Als ob ich jemals auf den Gedanken käme, meine Kinder alleine nach Deutschland gehen zu lassen! Er lenkt auch gleich ein: »Komm mit raus auf den Flur, damit wir die Kinder nicht wecken. Dort kannst du in Ruhe nachdenken, wo und wann du deinen Ausweis zum letzten Mal gesehen hast.« – »Aber ich habe ihn doch zusammen mit den anderen … «, will ich antworten. Aber da ist er schon draußen, und ich laufe ihm hinterher.
    Warum schimpfte er nicht? Das irritierte mich. Nicht einmal Vorwürfe machte er mir. Stattdessen zeigte er Verständnis, wie ich es nie von ihm erwartet hätte. »Wenn du ihn verloren hast, dann müssen wir einen neuen beantragen.« – »Ich habe den Pass nicht verloren, wie denn, wo denn?« – »Es sieht aber ganz danach aus.« Das war eine Unterstellung, ich erinnerte mich doch ganz genau, dass ich alle Papiere zusammen in eine Folie gelegt und in das Seitenfach geschoben hatte. Trotzdem sagte ich: »Ich werde noch einmal gründlich suchen, wenn die Kinder wach sind.« – »Ja, mach das. Ich nehme die anderen Pässe an mich, damit sie nicht auch noch verloren gehen.« Während er das sagte, steckte er sie in seine schwarze Tasche, die wie immer an seinem Handgelenk baumelte. Mein Flugticket drückte er mir in die Hand. »Damit kann ich im Moment nicht viel anfangen. Deinen Flug zu bestätigen hat ja wohl keinen Sinn.« Wollte er damit sagen, dass ich hierbleiben musste? Und nicht mit nach Deutschland reisen konnte? Es musste doch eine Möglichkeit geben, die notwendigen Papiere zu beschaffen. Irgendwie, schon wegen der Kinder, sie brauchten ihre Mutter. Mein Vater sollte seine Beziehungen spielen lassen. Wie Blitze zuckten die Gedanken durch meinen Kopf.
    Abdullah strich sich seine Haare aus der Stirn. »Wird schon alles gut werden«, sagte er ruhig. Ranziger Schweißgeruch stieg mir in die Nase, mir schwindelte. »Ich kümmere mich darum.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zur Tür. Er hatte nicht gewütet, kein einziges böses Wort gesagt. Wie locker er durch den Garten ging! Unter dem Pfirsichbaum bückte er sich und sammelte ein paar Früchte auf. Was war los

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