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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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mitgebracht.«
    Die Kinder lärmten im Wohnzimmer. Ich hatte Zeit, kochte Tee. Mit einem Glas in der einen und der heißen Kanne in der anderen Hand stellte ich mich dann an die Wand im Flur, so wie ich es oft als Kind getan hatte. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Ich sah die Kinder mit einem Kreisel spielen, den ihnen der Großvater geschenkt hatte. Er lag auf der Seite, ausgestreckt auf der Couch, lang und knochig, immer noch ein schöner Mann, seinen Kopf hatte er in die Hand gestützt, die Augen waren ihm zugefallen. Er war beliebt bei den Nachbarn und Kollegen, immer da, wenn jemand ihn brauchte.
    In dem Maße, in dem ich seinen Zorn fürchtete, bewunderte ich ihn auch. Den Weisen, der nach Mekka reiste. Er war stark, aber auch unerbittlich und gewalttätig. Trotzdem: Ich musste jetzt hinein, ihm alles sagen, bevor Abdullah wiederkam! Mit einem Ruck stellte ich das Glas auf dem Tisch ab und goss den Tee mit einem langen Strahl ein. Es schäumte. »Bitte, könnt ihr rausgehen, geht draußen spielen«, bat ich die Kinder außer Atem, als ob ich einen schnellen Sprint hingelegt hätte, obwohl es doch nur der Anlauf für eine Beichte war.
    »Warum sollen die Kinder draußen spielen?«, schreckte der Vater auf. »Willst du sie dem Großvater wegnehmen? In den wenigen Tagen, an denen ich sie noch hier bei mir habe?« Wie nett er zu seinen Enkelkindern war. Er bemühte sich dauernd um sie, spielte sogar mit ihnen. Vielleicht versuchte er auf diese Weise gutzumachen, was er bei seinen eigenen Kindern versäumt hatte. Ich konnte schon sehen, wie er am Ende der Ferien wieder mit den Tränen kämpfte, weil er sich von ihnen trennen musste.
    »Komm, setz dich zu mir«, sagte er nun. Das konnte ich nicht. Aber ich ging langsam zurück zur Tür, schloss sie und lehnte mich dagegen. Sollen die Kinder bleiben, sie würden sowieso alles erfahren. Vielleicht war es sogar besser so, dann würde mir mein Vater wenigstens nichts antun können. Für Minuten blieb ich stumm. Es fiel mir schwer zu sprechen, mein Hals war rau: »Meine Papiere sind verschwunden. Baba, bitte kannst du mir helfen?«, fing ich an. Er blinzelte, umständlich setzte er sich auf. »Was meinst du mit meine Papiere sind verschwunden.« – »Mein Pass, er ist nicht mehr da.« – »Was heißt nicht mehr da?« – »Es ist zum Verzweifeln, ich habe überall gesucht, aber ich finde ihn nicht mehr.« – »Das kann nicht wahr sein. Frag Abdullah, er muss ihn doch haben.« – »Nein, ich habe ihn aufgeräumt, und nun finde ich ihn nicht mehr. Alle Papiere sind da, nur mein Ausweis fehlt.« – »Wie willst du ohne Pass nach Deutschland fliegen? Das geht nicht.« – »Ich weiß.«
    Nervös stand der Vater auf. »Hat Abdullah ihn verschlampt?« – »Nein, ich hatte ihn, und jetzt ist er nicht mehr da.« – »Eine Katastrophe«, rief er, sprang auf und warf seine Arme in die Luft. »Bist du sicher? Wo hast du ihn verloren?« – »Ich habe ihn nicht verloren, sondern mit den Papieren der Kinder und den Flugtickets zusammen in meine Tasche gepackt.« – »Willst du damit etwa sagen, dass jemand aus der Familie ihn weggenommen hat?« – »Nein, warum denn?« – »Warum sind die Ausweise und Tickets überhaupt bei dir? Die haben nichts bei dir zu suchen. Dein Mann trägt die Verantwortung dafür.« – »Aber er wollte, dass ich mit den Kindern hierher nach Tunesien fliege. Deshalb hatte ich sie.« – »Und jetzt hast du deinen Pass verloren.«
    Mein Vater ging hin und her, zum Rhythmus seiner Schritte klatschte er in die Hände. Ich hatte Angst vor ihm, aber er war nicht böse, nicht so, wie ich es erwartet hatte. »Kannst du mir nicht helfen?«, fragte ich. »Von heute auf morgen, das denkst du dir so. Ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst. Ein neuer Pass braucht Zeit. Dann noch das Visum, das kann Monate dauern.« – »Und deine Beziehungen?« – »Nützen gar nichts, unsere Behörden arbeiten langsam. Du wirst hierbleiben müssen und warten.« – »Aber die Kinder?« – »Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Bevor du deinen Ausweis verlierst. Ich weiß nur so viel, ein neuer Pass kostet Zeit und Geld.«
    Die Tränen liefen mir übers Gesicht. Zehn Jahre hatte ich geschwiegen, noch nie hatte ich meinem Vater vorgeworfen, dass er mich ausgerechnet mit diesem Mann verheiratet hatte. Nie hatte ich ihn um etwas gebeten. Nun musste er mir helfen! Ich schluchzte und schlug die Hände vors Gesicht, an dem lange Haarsträhnen klebten. Jetzt konnte

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