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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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mit ihm? Er konnte mich doch nicht alleine lassen, bitte nicht in dieser Situation!
    Ich rannte ihm hinterher, er saß schon im Auto, ich fasste an das heiße Blech. Ich wollte, dass er etwas sagte, und genervt tat er mir den Gefallen: »Wie konnte ich nur so blöd sein, dir die Papiere zu überlassen?« Ich hielt ihn auf. »Ich wusste genau, dass ich dir die Unterlagen nicht geben darf, und habe es doch getan. Wie konnte ich nur so vertrauensselig sein und glauben, dass du alles im Griff hast?« – »Aber ich hab doch … « – »Verloren hast du ihn, deinen eigenen Pass verloren! Und wie willst du jetzt nach Deutschland kommen?« – »Mein Vater … « – »Dein Vater, was ist mit ihm? Der kann so schnell auch keinen Pass für seine Tochter herzaubern. Aber gut, vielleicht werden wir mit ihm zusammen eine Lösung finden. Aber stell dir das bloß nicht so einfach vor.« Er werde gegen Abend wiederkommen, sagte er noch, wenn der Vater da sei. Dann fuhr Abdullah los.
    Was mein Vater wohl dazu sagen würde? Ich ging zurück, schwitzte, in der Hölle konnte es nicht heißer sein. Ich tauchte meine Arme in einen Wassertrog, der auf der Terrasse neben vertrockneten Geranientöpfen stand. Ging unruhig durchs Haus, wie im Fieberwahn ins obere Stockwerk hinauf und wieder hinunter und hinaus durch den Hintereingang. Dort, wo ich immer in Nachbars Garten geklettert war, lehnte ich mich an die Mauer. Ich spürte meinen Puls, ich atmete noch. Aber die Luft stand still. Sicher ist alles nur ein Traum. Ein Hitzetraum. Ein Wüstenwahn. Ich habe oft von verzweifelten Suchaktionen geträumt. Gleich würde ich aufwachen. In der Gasse hinter dem Haus, dort wo ein paar Olivenbäume wachsen, ist das Meckern von Ziegen zu hören, und von der Straße weht milchsauer der Gestank vom Müll, den die Leute vor ihre Häuser gekippt haben. Ich starre in den Himmel, stechendes Blau. Es ist kein Traum. Mein Pass fehlt. Meine Kinder würden nach Deutschland reisen, und ich würde nicht mitkommen.

    Jasin, Amin, Amal – sie schliefen noch. Ich musste die Zeit nutzen und noch einmal nach meinem Pass suchen. Die Schranktüren standen weit offen, die Schubladen waren herausgezogen. Nun holte ich alle Kleider und Schuhe heraus, Taschen und Tücher, unser ganzes Gepäck, warf alles auf den Boden, breitete es auf den Matratzen aus, drehte jedes Stück um, packte wieder ein, riss alles wieder heraus.
    Langsam stieg eine Angst in mir hoch, die ich aus meiner Kindheit kannte. Die »Wenn-der-Vater-nach-Hause-kommt«-Angst. Panik vor dem Menschen, dem ich alles beichten müsste. Weil er sowieso herauskriegen würde, was ich wieder ausgefressen hatte. Also lieber alles gleich sagen und dann warten, ob er den Gartenschlauch holt. Wahrscheinlich würde er mich verdreschen wie früher. Dann würde ich mich in eine Ecke verkriechen und mich erst wieder hervortrauen, wenn der Vater im Bett lag. Was sollte ich ihm überhaupt sagen? Dass ich meinen Pass nicht mehr finde. Verloren habe. Und wenn er mir nicht glaubte?
    Wieder wühlte ich in den Sachen, schüttelte T-Shirts und Hosen aus, griff in jede Tasche, faltete alles wieder zusammen. Viermal, fünfmal. Vielleicht hatten die Kinder ja mit den Papieren gespielt und sie irgendwo versteckt. Doch als sie aufwachten, wussten sie von nichts. Ich schickte sie hinaus zur Großmutter, die irgendwo im Haus werkelte: »Raus, raus«, schrie ich, als sie nicht gleich hörten. Am liebsten hätte ich sie geschlagen, um meinen ganzen Frust abzuladen. Bei ihnen, die bestimmt am allerunschuldigsten an der Sache waren. Stattdessen schlug ich die Tür hinter ihnen zu.
    Es kann nicht sein. Ich habe meinen Pass nicht verloren. Ausgerechnet meinen und die anderen Ausweise nicht, lächerlich. Gleich nach der Kontrolle am Flughafen habe ich alle Papiere zusammen in die Tasche gesteckt und zu Hause bei den Eltern noch einmal kontrolliert. Vielleicht hat ihn ja jemand weggenommen? Aber wer aus der Familie sollte auf eine solche Idee kommen? Wozu und weshalb? Ich war verzweifelt.
    Irgendwann hörte ich meinen Vater kommen. Allah hilf, ich muss beten, dass ich das Ganze gut über die Bühne bringe. Wie immer rief er zuerst nach den Enkelkindern. Egal ob sie schliefen oder wach waren, er wollte sie sehen und die Geschenke, die er mitbrachte, verteilen. Er liebte sie, anders als meine Geschwister und mich, ohne sie zu schlagen. Er schrie einfach: »Amin, Jasin, Amal. Genug geschlafen, wo seid ihr, sofort herkommen. Ich hab euch etwas

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