Loewinnenherz
flüchtete.
Der Arzt, der endlich kompetent genug war, um Bernas Disposition zu erkennen, diagnostizierte Schwierigkeiten in der Grob- und Feinmotorik, dazu eine starke Orientierungsschwäche. |169| Ihr Intelligenzquotient ist ziemlich niedrig, bei Bewegungsabläufen wie beim Laufen hat sie Koordinierungsprobleme. Dazu kommen psychosomatische Beschwerden. Bei allem, was sie als Kleinkind erleben musste, ist das auch kein Wunder.
Berna überraschte mich immer wieder. Zum Beispiel ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters, als Refiks Cousin in der Türkei starb, und sie auf einmal zu mir sagte: „Mama, aber das war doch der, der dem Papa die Waffe gegeben hat.“ Da war sie gerade mal fünf Jahre alt.
Ich ging damals mit ihr zum Kinderpsychologen, da sie ganz offensichtlich nicht mit den fürchterlichen Geschehnissen rund um den Tod ihres Vaters zurechtkam. Sie, die immer ein stilles, freundliches Mädchen gewesen war, bekam Tobsuchts- und Schreianfälle. Während ihrer Therapie schrieb Berna ein paar Jahre später in einem Brief an ihren Vater: „Papa, warum hast du mich so geschlagen? Ich habe dir doch nichts getan.“ Eine Frage, die ihr offensichtlich auf der Seele brannte und auf die sie doch niemals eine Antwort bekommen würde.
Die ersten vier Schuljahre verbrachte Berna in einer reinen Mädchenschule und fiel nicht weiter auf. Sie schaffte es nicht aufs Gymnasium oder die Realschule und kam auf die Hauptschule. Dreimal wechselte sie die Schule, bis wir erfuhren, dass sie nicht krank oder schwererziehbar, sondern behindert war, und endlich die passende Einrichtung für sie fanden, in der sie noch heute ist und sich enorm wohlfühlt.
Bei all diesen Entwicklungen, den Untersuchungen und deren schmerzhaften und beängstigenden Ergebnissen, stand mir Attila zur Seite. Er machte uns Mut, wenn uns zum Heulen zumute war. Mit einem Scherz zur richtigen Zeit brachte er uns wieder zum Lachen. Von Anfang an verhielt er sich, als sei Berna sein eigenes Kind, als sei es ganz selbstverständlich, dass er für sie und mich da war. Er selbst stellte das überhaupt nicht infrage, er liebte mich vom allerersten Augenblick an, wie er behauptet, als ich damals spät am Abend die Volkswirtschaftsbücher in die Ecke warf und zu der Clique stieß.
|170| „Die Tür ging auf“, sagt er heute noch, „und da kam diese unglaublich tolle Frau herein, und bei mir machte es ‚Klick‘. Da wusste ich: Die oder keine.“
Dass die große Liebe in mein Leben getreten war, hatte Konsequenzen. Ich sah ein, dass ich nicht mehr nur rund um die Uhr arbeiten konnte. Attila wollte Zeit mit mir verbringen und ich mit ihm. Ohnehin wurde meine Arbeit als Personalleiterin immer komplexer und anstrengender, und so kündigte ich schweren Herzens einigen meiner privaten Steuer- und Buchhaltungsklienten.
„Du machst dich doch sonst kaputt“, sagte Attila, und auch damit hatte er recht.
Das Klima im Betrieb war während dieser Zeit unmerklich kühler geworden. Es gab eine erste Welle an Entlassungen und wir mussten einen Sozialplan entwickeln. Wieder stand ich vor einer völlig neuen Herausforderung, dieses Mal aber vor einer, die mein Herz schwer machte. Nicht nur, dass ich keine Ahnung hatte, nach welchen Kriterien ein Sozialplan erstellt wird, worauf man dabei achten muss und wie man vorgeht – die Tatsache an sich, langjährigen Mitarbeitern die Kündigung aussprechen zu müssen, ging mir ziemlich an die Nieren.
Es gab nervenaufreibende Gespräche mit dem Betriebsrat im Beisein von Anwälten auf beiden Seiten. Mithilfe des Anwalts der Betriebsleitung lernte ich nach und nach, wie man so etwas macht. Alles lief reibungslos, ich hatte meine Sache einmal mehr gut vorbereitet, doch leider Gottes konnte ich diesmal auf meine Leistungen überhaupt nicht stolz sein.
In meiner Beziehung konnte ich dagegen mein Glück kaum fassen. Attila wünschte sich von Herzen ein Kind, ich aber war unsicher, ob ich das gesundheitlich packen würde. Zu gut erinnerte ich mich noch an die schwere Zeit der Schwangerschaft mit Berna.
„Mit meinem Nierenleiden“, sagte ich, „schaffe ich das kein zweites Mal.“
„Wann hattest du denn das letzte Mal Probleme mit den Nieren?“, wollte Attila wissen.
|171| Darüber musste ich nachdenken. Verblüfft stellte ich fest, dass sie sich kaum noch gerührt hatten seit ich mein eigenes Leben lebte.
„Warum gehst du nicht zum Urologen und lässt dich durchchecken?“, schlug Attila vor.
Und so machte ich es. Wie groß war
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