Lohn des Todes
weiblichen Maria mit der Wolke aus dunklen Locken um den Kopf und
Martin. Die Bilder waren sinnlich und taten mir weh. Krampfhaft versuchte ich, an etwas anderes zu denken. Wann würde der
Bäcker öffnen? Um sieben? Wie viele Brötchen brauchte ich für alle? War genug Kaffee da, und hatten wir Milch und Butter?
Und dann plötzlich war das Bild von Sonja in meinem Kopf. Sonja Kluge, als knapp Zehnjährige, als Kind. Voller Ängste und
ohne Worte. Ihr war es immer schon schwergefallen, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Nur mühsam war ich damals an sie herangekommen.
Ein stilles, aber doch aufgewecktes Kind. Die Tests ergaben, dass sie normal intelligent war, keine großen Schwächen zeigte.
Etwas machte ihr Angst, soviel Angst, dass sie sich total zurückzog, depressive Anzeichen aufzeigte, kaum noch soziale Kontakte
pflegte. Ihre Mimik und Gestik waren gehemmt und eingeschränkt. Inwieweit sie das steuerte, konnte ich damals nicht ausmachen.
Ich ging allerdings von einem krankheitsbedingten Verhalten aus. Ein paar Jahre später tauchte sie von sich aus in meiner
Praxis auf. Damals war sie schon ein Teenager. Ich überlegte, wie alt sie gewesen sein mochte, sechzehn oder siebzehn? Mindestens.
Es musste fünf oder sechs Jahre her sein. Vielleicht auch nur vier, ich war mir nicht sicher. Sie kam nur dreimal, vereinbarte
einen neuen Termin, nahm ihn aber nicht wahr. Da hatte ich meine Praxis gerade erst aufgebaut, und dank vieler Kontakte boomte
sie. Kollegen und auch meine Freundin Stephanie, eine Kinderärztin, mit der ich mir die Praxisräume teilte, überwiesen mir
Patienten.
|46| Sonja kam von sich aus. Deshalb erinnerte ich mich an sie. Kaum ein Jugendlicher tat das, konnte sich zu so einem Schritt
überwinden. Aber sie stand in meiner Tür und bat mich um Hilfe. Ungewöhnlich. Und dann tauchte sie nie wieder auf, nahm den
nächsten Termin nicht mehr wahr, den sie so gewissenhaft ausgemacht hatte. Sie war weder in einer akuten Situation gewesen
noch von einem Kollegen überwiesen worden, sondern kam aus freien Stücken, sonst hätte ich nachgeforscht, warum sie mich nicht
mehr aufsuchte. Aber so waren mir die Hände gebunden. In den Wochen danach erkundigte ich mich unter der Hand in der Psychiatrie,
im Alexianer, wo ich meine Ausbildung gemacht und sie getroffen hatte. Aber dort tauchte Sonja auch nicht auf. Und auch nicht
in den Todesanzeigen, die ich las.
Nach einer Weile vergaß ich das Mädchen. Eine von vielen Fällen, die mir in den Jahren vor den Schreibtisch kamen. Ein interessanter
Fall wegen ihrer Eigenständigkeit, aber wissenschaftlich nicht außergewöhnlich. Und nun hatte ich sie wieder getroffen. Nur
ihren Namen. In einer Mordakte. Bei einer OFA.
Gefesselt. Gequält . Gefoltert . Vergewaltigt . Ausgeblutet . Ermordet. Overkill .
Ich schüttelte den Kopf, versuchte die Gedanken loszuwerden. Es wollte mir nicht gelingen. Ich wusste nicht sicher, ob Sonja
auch so gequält worden war wie der alte Mann, vermutete es nur. »Es gibt einen Zusammenhang zwischen den Fällen, die Vorgehensweise
ist ähnlich.« Ich wollte nichts damit zu tun haben, mich nicht damit beschäftigen.
Sechs Leute von der OFA plus mich, macht sieben, mindestens vierzehn Brötchen, besser zwanzig. Oder lieber gleich fünfundzwanzig.
War Aufschnitt im Haus? Marmelade? An Nutella hatte ich gedacht, und zehn Eier hatte ich mitgebracht. Martin liebte gekochte
Eier zum Frühstück, weich und noch warm. Zehn würden nicht wirklich reichen. Ich hatte auch Speckwürfel dabei. Rührei und
Speck …
Ausgeblutet. Verhungert
. Scheiße, die Gedanken ließen mich |47| nicht los. Inzwischen war aus der vagen, rosigen Ahnung ein Morgenlicht geworden. Die Kühe auf den Weiden muhten, verlangten
gemolken zu werden. Ich hörte die ersten Wagen fahren, der Tag hatte endgültig begonnen. Für mich, für Martin und Maria, aber
nie mehr für Sonja Kluge und auch nie mehr für den alten Mann. Ich blieb stehen, verschwitzt und außer Atem, war vor mir selbst
und meinen Gedanken davongelaufen, schneller, als es gut für meinen Körper war. Alles tat mir weh, sogar das Luftholen. Mit
letzter Kraft beugte ich mich vor, stützte meine Hände auf die Knie, versuchte meinen Atem zu bezwingen. Ein – Aus – Ein –
Sonja … ich hatte ihr nicht helfen können. Sie hatte mir nicht genug Vertrauen geschenkt, um wiederzukommen. Ich war ihr etwas
schuldig.
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Kapitel 6
Der Bäcker hatte
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