Lohn des Todes
zwar noch geschlossen, aber er sah mich vor der Tür und gab mir die ersten, noch heißen Brötchen. Auch Milch
hatte er da. Als wir das Haus kauften, waren wir als Fremde misstrauisch betrachtet worden. Doch durch das Ereignis im Herbst
gehörten wir nun zum Dorf. Wenigstens eine positive Folge, dachte ich.
Ich kochte Kaffee. Im Esszimmer schliefen die beiden Kripobeamten aus Köln auf Luftmatratzen. Ich schloss die Tür sacht, wollte
sie nicht wecken. Mit meinem dampfenden Becher setzte ich mich auf die Terrasse, sah zu, wie der Tag langsam erwachte. Das
auf- und abschwellende Summen der Bienen, die sich über das Rapsfeld hermachten, füllte die Luft. Es duftete intensiv nach
Honig.
»Guten Morgen.« Robert Kemper rieb sich mit beiden Händen über die Wangen. Ich meinte, das Knistern seiner Bartstoppeln hören
zu können.
»So früh schon wach?«
|48| »Ich habe kaum geschlafen.« Er gähnte herzhaft, schlug sich dann verschämt die Hand vor den Mund. »Verzeihung.«
»Lag es am Bett?« Ich grinste.
»Nein, nein, das Bett ist wunderbar. Es lag an meinen Gedanken. Wo finde ich so was?« Er deutet auf meinen Kaffeebecher.
»In der Küche steht eine Thermoskanne.«
Er holte sich Kaffee, setzte sich neben mich und hielt sich die Tasse vor sein Gesicht. »Es ist wunderschön hier, so friedlich.«
Das habe ich auch immer gemeint und mich getäuscht, dachte ich, sprach es aber nicht aus.
Robert warf mir einen nachdenklichen Blick zu. »Hast du dich entschieden? Ich bin mir sicher, du könntest uns eine große Hilfe
sein.«
»Ich habe darüber nachgedacht, aber um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass ich etwas Wesentliches zu dem Fall beitragen
kann. Ich kannte Sonja noch nicht einmal richtig.«
»Sie war bei dir in Behandlung?«
»Nur kurz, drei- oder viermal höchstens. Sie litt unter großen Verlustängsten, hatte Phobien. Es ist aber schon Jahre her.
Ich müsste mir die Akte raussuchen.«
»Verlustängsten?«
»Ja, schon als Kind. Da habe ich sie zum ersten Mal getroffen. Sie war stationär in der Psychiatrie. Wir konnten die Ursache
ihrer Ängste nicht finden. Sie wuchs in einer normalen, netten Familie auf. Einzelkind. Daran glaube ich, mich zumindest zu
erinnern. Aber wie gesagt, ich müsste das nachschauen.«
»Die Unterlagen hast du in Aachen?« Er trank von dem Kaffee, verzog das Gesicht. Offensichtlich war das Getränk noch zu heiß.
Ich nickte.
»Das ist natürlich dumm. Du bist hier, um das Wochenende zu genießen …«
Ich lächelte. Er versuchte, nicht ganz ungeschickt, mich zu |49| manipulieren und mich dazu zu bringen, nach Aachen zu fahren. Immer noch war ich mir nicht sicher, was ich wollte. Aber eines
war mir klar – an diesem Wochenende würde ich nicht viel mit Martin klären können. Doch wenn ich jetzt wegfuhr, würde ich
Maria kampflos das Feld überlassen. Das war mir auch nicht recht.
»Vielleicht hilft es dir, eine Entscheidung zu treffen, wenn du dich mit der Akte befasst.«
»Wenn ich all die Grausamkeiten sehe, die der Täter ihr angetan hat? Möglicherweise wäre dann der Impuls stark, etwas dagegen
unternehmen zu wollen. Andererseits …«, ich stockte, atmete tief ein. »Andererseits habe ich im Moment noch ein starkes Problem
mit Gewalt. Und dass ich das Opfer kannte, macht es nicht einfacher für mich. Ich würde mich eventuell zu stark identifizieren
und hätte nicht die nötige Objektivität.«
Diesmal pustete Robert in die Tasse, bevor er vorsichtig an dem Kaffee nippte. »Du klingst sehr reflektiert. Danke, für deine
Offenheit. Ich weiß das zu schätzen.«
»Gestern habe ich einiges über den alten Mann gehört. Ist das Mädchen genauso gequält worden?« Ich biss mir auf die Lippe.
Wollte ich das wirklich wissen?
»Die Vorgehensweise war ähnlich. Sehr brutal. Aber vor allem die DNS-Spuren des Täters sind identisch. Was uns allerdings
verblüfft, ist, dass es zwei derartig unterschiedliche Opfer sind. Das Motiv ist absolut unklar.«
»Und wenn er einfach nur leicht an die Opfer herangekommen ist? Den alten Mann beim Spazierengehen überfallen, dem Mädchen
nach einem Diskobesuch aufgelauert hat? Situationen, die einsam und nicht beobachtet waren? Da hätte jeder Opfer sein können.
Das Motiv liegt dann in der Tat an sich und nicht in dem Opfer-Täter-Verhältnis.«
»Eine unpersonifizierte Tat? Gewalt um der Gewalt willen? Das haben wir uns auch schon gedacht. Trotzdem, ein solch brutaler
Täter, der
Weitere Kostenlose Bücher