Lohn des Todes
aufstanden.« Dann erzählte ich ihm von meiner Schwester.
Martin runzelte die Stirn. »Wenn ich Rita nicht kennen würde, würde ich mir auch Gedanken machen. Aber so ist sie |185| nun mal. Und wenn du nicht in der OFA wärst und diese ganzen schrecklichen Morde im Kopf hättest, würdest du dir auch keine
Gedanken machen. Sie ist weggefahren, in ihrer Wohnung wurde eingebrochen, ihr Wagen geklaut. Eine Verkettung von unglücklichen
Ereignissen. Nicht zwingend ist ihr etwas passiert.«
»Meinst du wirklich?« Zweifelnd sah ich ihn an.
»Natürlich. Letztes Jahr hatte sie einen Verkehrsunfall, weißt du noch? Und am Unfallort wurde ihr die Handtasche gestohlen.
Rita zieht solche Sachen magisch an.«
Ich nickte und griff nach dem Telefon. Meiner Mutter erzählte ich nur knapp, was Robert mir über den Wagen erzählt hatte und
dass das Blut nicht von meiner Schwester stammte.
»Blut?«, fragte sie entsetzt.
Ich verdrehte die Augen und verfluchte mich. Langsam und ausführlich erklärte ich ihr den Tathergang.
»Es hat nichts mit Rita zu tun. Randalierende Jugendliche waren es. Ihr geht es bestimmt gut.« Ich versuchte überzeugender
zu klingen, als ich mich fühlte. Anscheinend gelang es mir, meine Mutter klang tatsächlich beruhigter, als ich auflegte.
Martin kaute gedankenverloren auf seiner Unterlippe.
»Was ist mit dir?«, fragte ich leise.
Er schüttelte den Kopf. »Ach, der Fall Kluge wird immer komplizierter. In seinem Schlafzimmer und auch im Bad gibt es Blutspuren.
Sie wurden zwar abgewaschen, doch nur flüchtig.«
»Wessen Blut?«
»Wenn ich das mal wüsste. Weder seines noch Sonjas. Derjenige, der dort geblutet hat, war nicht mit ihnen verwandt. Aber es
passt auch zu keinem der bisherigen Opfer.«
»Also noch einer«, flüsterte ich.
»Davon müssen wir ausgehen.«
»Wie viele noch?«
Martin schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
»Habt ihr sonst noch etwas gefunden?«
|186| »Nein, nichts Brauchbares. Die Pornos sind harmlos, der Safe war leer.«
»Er muss irgendwo ein Versteck haben. Einen Ort, an dem er die Opfer gefangen hält.«
»Ja, aber wo? Kein Ferienhaus, keine Ferienwohnung, kein Schuppen, nichts. Wir kommen nicht weiter, und vermutlich ist er
inzwischen über alle Berge.«
»Spätestens, wenn die nächste Leiche gefunden wird, wissen wir, ob er noch im Land ist«, sagte ich leise.
Den Rest des Abends verbrachten wir schweigsam. Wir sahen die Nachrichten, aßen etwas, gingen früh zu Bett. Beide waren wir
in Gedanken mit dem Fall Kluge beschäftigt.
Am nächsten Tag fuhr Martin zeitig nach Köln. Er wollte genauere Analysen der Blutproben machen.
»Wirst du den Tag überstehen?«, fragte er mich ernst.
»Ich habe keine Wahl.«
»Es tut mir leid, dass ich dich nicht begleiten kann.«
Ich nickte nur, biss mir auf die Lippen.
Die Beerdigung war um elf. Simone wollte sich melden, wenn ich vorher zu ihr kommen sollte. Sie meldete sich nicht. Ich war
einerseits erleichtert, andererseits besorgt. Doch ich konnte mir gut vorstellen, dass sie in dieser Zeit mit ihrem Mann alleine
sein wollte.
Ich fuhr bedrückt zum Westfriedhof, nachdem ich mit Charlie eine lange Runde am Entenpfuhl im Aachener Wald gegangen war.
Die Vaalser Straße unterteilte den Friedhof in den linken und in den rechten Teil. Ich parkte rechts, ging langsam zur Kapelle.
Von hier aus konnte man beinahe zum Klinikum spucken. Dort, wo Sven so sehr gelitten hatte. War es ein tröstlicher Gedanke,
dass er nicht mehr leiden musste oder nicht? Ich war mir nicht sicher.
Der Gottesdienst begann mit einem Lied von »The Fray« – »How to save a life«. Beim Refrain: Where did I go wrong, I lost a
friend, somewhere along in the bitterness, and I would have stayed up with you all night, had I known how to safea life –
sah ich Simone an und sie mich. Wir beide teilten die Erinnerung |187| an Svens letzte Nacht, an seinen letzten Atemzug. Das würde uns für immer verbinden. So bitter es auch war, es gab mir Kraft.
Das, was die Pastorin sagte, ging an mir vorbei. Ich spürte wohl, dass ihre Worte gut gewählt waren, alle waren ergriffen.
Ich schaute nur auf die großen Bilder von Sven, die ihn als Baby, Kleinkind und auch später zeigten, dachte an die vielen
Gespräche, an das gemeinsame Schweigen. Dann wurde nochmal ein Lied von »The Fray« gespielt. »You found me«.
Simone, Peter und auch Sven waren gläubig. Sie hatten ihren Glauben bei all den Niederlagen nie in
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