Lola Bensky
fragte er. Lola erschrak. Was Verderbtheit bei einem Rockstar ausmachte, darüber hatte sie nicht nachgedacht. Vielleicht hatte sich der Journalist, der Mick Jagger als verdorben bezeichnet hatte, eine Art Sex-Orgie vorgestellt.
Lola wusste, dass die Informationsschnipsel, die ihre Mutter fallenließ, über Frauen, die von der Gestapo gezwungen wurden, sich auf allen vieren auf den Boden zu knien, um von großen, abgerichteten SS -Hunden vergewaltigt zu werden, Verderbtheit beschrieben. Und ihre Halbsätze über Ärzte, die Hunderte von Männern, Frauen und Kindern mit Typhus, Cholera, Beulenpest oder Aussatz infizierten und sie je nach Laune unsinnigen medizinischen Experimenten unterzogen, handelten ebenfalls von Verderbtheit.
Renia und Edek hatten eine Gruppe von acht Freunden. Sie nannten sich ›Die Gesellschaft‹. Die Gesellschaft ging am Samstagabend gemeinsam ins Kino, und am Sonntagabend spielte sie Karten. Meist bei den Benskys zu Hause, da Renia nicht gerne Karten spielte und sich für gewöhnlich bereit erklärte, das Abendessen zu machen. An einem Sonntagabend hatte Mrs. Feldman Mrs. Lipschitz gefragt, warum sie so müde aussehe.
»Frag nicht«, sagte Mrs. Lipschitz. »Ich konnte gestern Nacht nicht schlafen.«
»Sie hat die ganze Nacht an Willhaus gedacht«, sagte Mr. Lipschitz. »Obersturmführer Willhaus war der Kommandant des Zwangsarbeiterlagers Lemberg-Janowska. Er hat mit seiner Frau und seinen Töchtern dort gewohnt.«
»Ich habe von ihm gehört«, sagte Edek. »Er stand gerne mit seiner Frau und seinen Töchtern auf dem Balkon und schoss auf die Häftlinge. Sie hatten ihren Spaß daran.« Die Gesellschaft wurde sehr still. »Lemberg liegt dreihundert
achtzig Kilometer von Lodz entfernt«, sagte Edek zu Lola, die Edek beim Kartenspielen zugeschaut hatte. Lola war sich nicht sicher, warum Edek es für notwendig hielt, dass sie die Erschießungen geografisch exakt verorten konnte.
»Manchmal befahl Willhaus jemandem, drei- oder vierjährige Kinder in die Luft zu werfen, auf die er dann geschossen hat«, sagte Mr. Lipschitz. »Und wenn er ein Kind erschossen hatte, klatschte Willhaus' neunjährige Tochter in die Hände und rief: Nochmal, Papa.« Mrs. Lipschitz fing an zu weinen.
»Nimm dir ein Stückchen Schokolade«, sagte Edek zu ihr. »Die mit der Pflaume in der Mitte sind sehr gut.«
»An Hitlers Geburtstag 1943 hat Obersturmführer Willhaus vierundfünfzig Häftlinge abgezählt und sie eigenhändig erschossen«, sagte Mrs. Lipschitz. »Hitler wurde an dem Tag vierundfünfzig.«
Lola war sich sicher, dass Willhaus verdorben war.
»Ich nehme an, der Journalist, der mich so beschimpft hat, meinte dekadent«, sagte Mick Jagger. »Ich bin vielleicht dekadent, aber ich bin nicht verdorben. Ich versuche, auf mich zu achten. Ich esse wenig Fleisch. Ich mag lieber Fisch. Ich trinke keine Milch und esse kaum stärkehaltige Lebensmittel.«
Lola wollte ihn fragen, warum er keine Milch trank, entschied sich aber dagegen.
»Ich glaube an das Sprichwort, du bist, was du isst«, sagte Mick Jagger. »Wenn man viele Kartoffeln isst, sieht man am Ende aus wie eine Kartoffel.«
»Ich esse nicht viele Kartoffeln«, sagte Lola.
»Ich meinte nicht dich«, sagte Mick Jagger. Er wirkte überrascht.
»Ich esse viel Schokolade«, sagte Lola. »Eigentlich müsste ich flach und eckig aussehen. Aber ich sehe eher aus wie eine Kartoffel.«
»Nein, das stimmt nicht«, sagte er.
»Ich bin dick«, sagte Lola.
»Du bist sehr hübsch«, sagte Mick Jagger.
»Danke«, sagte Lola.
Das war nett von ihm, fand Lola. Wahrscheinlich war er nicht einmal dekadent, und schon gar nicht verdorben.
Lola wollte, dass die Unterhaltung sich einem anderen Thema als Essen, Körpergröße oder Figur zuwandte.
»Aus welchem Grund bist du von der London School of Economics abgegangen?«, fragte sie.
Mick Jaggers Tutor an der London School of Economics hatte ihn als einen sehr vielversprechenden, intelligenten Studenten beschrieben. Mick Jagger zuckte mit den Schultern.
»Ich nehme an, es hat mich einfach gereizt, Entertainer zu werden«, sagte er.
Lola fand es seltsam, dass er das Wort Entertainer benutzte, um sich selbst zu beschreiben. Rockstar, Musiker, Sänger, das wären passendere Wörter gewesen.
»Ich bin gerne Entertainer«, sagte er. »Es hilft mir als Mensch, mich von meinem Ego zu lösen.«
Wie konnte er oder irgendjemand sonst sich von seinem Ego lösen, fragte sich Lola. Anders als Zehen oder Knie waren
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