Lola Bensky
lief nicht gut.«
Lola wusste, dass Mick Jagger katholisch erzogen war, doch er klang so jüdisch. Die Aufzählung all dessen, was nicht stimmte, das war sehr jüdisch. Erkundigte man sich bei einem Juden nach seinem Befinden, resultierte das zwangsläufig in einer Litanei von Klagen. In jiddischen Sprachführern stand als Antwort auf die Frage »Wie geht es Ihnen?« nie »Mir geht es ausgezeichnet« oder »Mir geht es sehr gut«.
Allein die Frage machte den meisten Juden Angst, zugleich bot sie Gelegenheit zur Klage. Antworten wie »nish-koshe« (»nicht schlecht«) und »a-zoy« (»so lala«), aber auch »s'ken alemol zayn erger« (»es könnte jederzeit schlimmer sein«) oder »s'ken alemol zayn beser« (»es könnte jederzeit besser sein«) galten als positiv. Jede dieser Antworten wurde von einer gequälten Miene, mattem Schulterzucken oder Händeringen begleitet.
Den Katalog der Klagen, die zu hören waren, wenn irgendwer von den Freunden ihrer Eltern gefragt wurde, wie es ihm oder ihr ging, hat Lola immer geliebt. »Wenn das so weitergeht mit meinen Kindern, krieg ich einen Herzinfarkt.« »Mir tut der Kopf weh.« »Mein Harry bringt mich noch um. Er will einfach nicht lernen.« »Mein Mann arbeitet zu viel. Und ich habe geschwollene Füße.« »Wie soll es mir schon gehen?« Das waren keine untypischen Antworten.
Wenn die Eltern von Lolas australischen Schulfreunden gefragt wurden, wie es ihnen ging, lautete die unvermeidliche Antwort: »Hervorragend, danke.« Und was sagte einem das?
Nichts. Man hatte keine Ahnung, dachte Lola, ob es ihnen tatsächlich hervorragend ging oder ob sie an der Schwelle des Todes standen. Fragte man dagegen einen Juden, wie es ihm ging, erfuhr man etwas über ihn. Renias Freundin Mrs. Littman gab auf die Frage, wie es ihr gehe, meist dieselbe Antwort. »Was Yitzhak jede Nacht von mir will, lieber Gott, frag nicht.«
Niemand fragte je.
Lola mochte Mrs. Littman. Sie war blond und vollbusig und trug enge Oberteile und noch engere Röcke. Wenn Renia nicht hinsah, schob Mrs. Littman ihr bei den Kartenspielabenden immer heimlich ein Stück Kuchen oder eine Schokoladenwaffel zu. Noch Jahre später fragte sich Lola jedes Mal, wenn sie Mrs. Littman sah, ob Yitzhak es noch immer jede Nacht wollte – was immer es war, was er wollte.
»Nein, Mann, es war richtig schlimm«, sagte Mick Jagger gerade ins Telefon. »Die Session war eine Katastrophe.« Er wirkte sehr besorgt. Lola fühlte sich von Leuten angezogen, die Kummer hatten und darüber redeten, wenn etwas nicht stimmte. Von Leuten, die sich Sorgen machten. Zu oft gut gelaunt zu sein erschien ihr unnatürlich.
Auch von innerer Qual fühlte sie sich angezogen. Sie konnte innere Qual schon von weitem riechen. Vom anderen Ende des Hauses, von der anderen Straßenseite, eventuell sogar aus einer Entfernung von ein oder zwei Häuserblocks. Sie spürte eine innere Qual auch dann, wenn sie von einem Lächeln verschleiert oder hinter einem Grinsen verborgen war.
Vor ein paar Tagen war sie mit Cat Stevens die Carnaby Street entlanggegangen. Sie waren auf dem Weg in das Büro von Cat Stevens' Manager. Lola hatte das Gefühl, der Hauch einer inneren Qual warte nur darauf, aus Cat Stevens hervorzubrechen.
Cat Stevens hatte mit »I Love My Dog« und »Matthew & Son« bereits zwei Smash-Hits gelandet und war mit »I'm
Gonna Get Me a Gun« auf dem Weg zu einem dritten. Er war achtzehn, fast zwei Jahre jünger als Lola.
Carnaby Street war eine einzige Flut aus leuchtenden Farben und ultrakurzen Miniröcken. Lola hatte den Lesern von Rock-Out berichtet, dass die jungen Frauen Minikleider in fluoreszierendem Pink, Gelb oder Grün und Schuhe in der gleichen Farbe trugen, außerdem silbernen, goldenen oder bronzefarbenen Lidschatten sowie Ohrringe und Broschen aus alten Gürtelschnallen, Tischtennisbällen, alten Halsketten oder geflochtenen Schnürsenkeln. Manche der Röcke und Kleider waren so kurz, dass sie nur knapp den Hintern der Trägerin bedeckten. Lola sah mehrere junge Frauen, deren Höschen auf ihre Kleider abgestimmt waren. Seit es wärmer geworden war, schmückten die Mädchen ihre nackten Knie mit aufgeklebten Schmucksteinen oder künstlichen Blumen.
Es war definitiv kein Jahr für dicke Knie, dachte Lola. Sie hatte überlegt, ob sie einen Spezialisten auf der Harley Street aufsuchen sollte, der pro Woche einen Gewichtsverlust von mindestens zwei Kilo garantierte. Sein Schlankheitsprogramm umfasste tägliche Hormonspritzen und
Weitere Kostenlose Bücher