Lola Bensky
sagte sie. »Hier ist Lola Bensky.« Jedes Mal, wenn sie das sagte, dachte Lola daran, wie sie als Dreijährige zu Hause in North Carlton auf den Hocker
geklettert war, der neben dem Wandtelefon stand. »Hier ist die kleine Lola«, hatte sie damals in den Hörer gesagt. Das konnte sie heute nicht mehr. Sie zupfte an ihrem Kleid, das ein wenig hochgerutscht war.
»Hallo«, sagte sie noch einmal.
»Hi, hier ist Mick«, sagte eine Stimme.
»Mick?«, fragte sie.
»Mick Jagger«, sagte die Stimme.
»Oh«, sagte Lola. »Hallo.«
»Paul ist noch da, und er bleibt noch zwei Stunden«, sagte Mick Jagger. »Es kommen noch ein paar andere Leute. Möchtest du dazukommen?« Lola wusste nicht, was sie sagen sollte. Das hatte sie nicht erwartet.
»Wie viele Leute kommen denn noch?«, fragte sie.
»Noch drei«, sagte er. »Nur für ein, zwei Stunden. Um acht muss ich wieder im Studio sein.«
Lola wollte eigentlich nicht hingehen. Sie war müde. Es war ein langer Tag gewesen. Zwischen den Interviews mit Mick Jagger und Manfred Mann hatte sie herausfinden müssen, an welche Bank ihr Gehalt überwiesen worden war. Jeden Monat schien es bei einer anderen Bank zu landen. Niemand bei Rock-Out schien zu wissen, warum, oder wie sie herausfinden konnte, wo ihr Geld war.
Sie dachte über Mick Jaggers Einladung nach. Sie sollte wirklich hingehen. Wie viele Leute bekamen Anrufe von Mick Jagger, der sie fragte, ob sie vorbeikommen und Paul McCartney kennenlernen wollten?
»Gut, einverstanden«, sagte sie zu Mick Jagger und stellte fest, dass es ein bisschen halbherzig klang.
»Heißt das, du kommst?«, fragte Mick Jagger.
»Ja«, sagte sie und fügte, in dem Bemühen, etwas enthusiastischer zu klingen, hinzu: »Danke.«
»Ich schicke dir einen Wagen«, sagte Mick Jagger. »Er kann in ungefähr fünfzehn Minuten da sein. Passt dir das?«
»Das wäre toll«, sagte Lola.
Sie hoffte, es wäre kein Rolls-Royce. Jemand von den Shadows, Cliff Richards Begleitgruppe, hatte sie einmal in einem Rolls-Royce abgeholt. Er hatte ihr erzählt, dass eines seiner Kinder sich beim Herumspielen mit dem elektrischen Fensterheber eine Fingerspitze abgetrennt hatte. Lola war noch nie in einem Auto mit elektrischen Fensterhebern gefahren und hatte sich vorgenommen, Rolls-Royces zu meiden. Damals hatte sie sich gefragt, ob die abgetrennte Fingerspitze wohl eine Art Strafe dafür war, ein Auto zu fahren, das mehr kostete als die meisten Häuser. Dann fiel ihr wieder ein, dass es keinen Gott gab und dass es Gott deshalb nicht nur unmöglich war, den Menschen zu helfen, sondern auch, Strafen zu verhängen.
Sie sah auf ihre Uhr. Sie hatte definitiv nicht genügend Zeit, um vor der Begegnung mit Paul McCartney noch eine Diät zu machen. Sie fragte sich, ob Mick Jagger die Empfangsdame gebeten hatte, die dicke australische Journalistin ans Telefon zu holen. Der Gedanke ließ sie zusammenzucken.
3 Als Erstes fiel Lola an New York auf, dass es dort keine Miniröcke gab und keine Rolls-Royces. »Falls ihr gelegentlich der Meinung seid, in Australien hinkten wir der Zeit hinterher, dann würde eine einzige Reise nach New York diese Vorstellung korrigieren«, schrieb Lola in einem Brief an die Leser von Rock-Out . »Man kann den ganzen Tag herumlaufen, ohne einen einzigen Minirock zu Gesicht zu bekommen«, schrieb sie. »Die Mode hinkt Jahre hinterher. Stilettos sind immer noch in. Die Szene ist richtig spießig.«
Zwei Tage später erkannte sie die Oberflächlichkeit ihrer Feststellung. New York hinkte nicht hinterher. Es war anders. Im Gegensatz zu London war schwer zu erkennen, wer sehr reich war und wer eher arm. Es gab eine Einheitlichkeit der Kleidung. Und der Autos. Reichtum wurde nicht zur Schau gestellt. Mit Sicherheit nicht unterhalb der 31 st Street, wo Lola im Horwood Hotel wohnte.
Das Horwood Hotel war heruntergekommen. Freunde von Freunden von Renia und Edek kannten den Besitzer: Abe, ein fetter, schwitzender Mann, dessen Hemd mit etwas bekleckert war, das wie Senf aussah. Er spendierte Lola einen Orangensaft und räumte ihr fünf Prozent Rabatt auf das Zimmer ein.
Alles in dem spärlich eingerichteten Zimmer sah schmutzig aus. Ein halbes Dutzend verendeter Kakerlaken lag verstreut auf dem einst beigefarbenen Teppich, der inzwischen einen solchen Fettglanz aufwies, dass man Angst hatte, darauf auszurutschen. Alles in dem Zimmer wirkte tot.
Lola fragte sich, ob einen der Aufenthalt in einem Zimmer ohne jede menschliche Annehmlichkeit Gott
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