Lola Bensky
das Gesicht gegen das Glas und sandte Küsse ins Publikum. Nach jedem Kuss stiegen winzige Bläschen an die Oberfläche.
Die Unterwasserstripperin tanzte auch, während sie strippte. Sie streckte die Zehen, reckte die Arme und vollführte horizontale Pirouetten, während sie ein Kleidungsstück nach dem anderen ablegte.
Sie trug Shorts, Socken, eine Bluse, ein Hemdchen und mehrere Schichten Unterwäsche. Die nassen Socken auszuziehen war sicher nicht einfach, dachte Lola.
Die Unterwasserstripperin strippte und tanzte zum Klang von Bobby Darins »Beyond the Sea«.
Sie kam nicht ein einziges Mal an die Oberfläche, um Luft zu holen. Wenn sie »Beyond the Sea«
hörte, wurde Lola oft ein wenig traurig. Sie hatte das Gefühl, dass beyond the sea, somewhere beyond the sea der Ort war, an dem sie sein wollte. Irgendwo. Irgendein gewaltiges Irgendwo der unendlichen Möglichkeiten. Nicht hier in North Carlton oder in St. Kilda, wo sie und Renia und Edek demnächst hinziehen würden.
Lola verbrachte eine halbe Ewigkeit damit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie die Unterwasserstripperin unter Wasser atmen, erst recht sich ausziehen konnte. Eines Tages überredete sie Edek, sie hinter die Bühne gehen zu lassen. »Ich möchte wissen, wie sie unter Wasser atmet«, sagte Lola zu Edek.
»Für mich ist das auch ein großes Rätsel«, sagte Edek. »Ich habe sie genau beobachtet jedes Mal und nicht gesehen, wie sie es macht.«
Am Bühneneingang sagte ein Mann mit langen schwarzen
Haaren zu Lola, die Unterwasserstripperin sei schon nach Hause gegangen.
»Wie hat sie sich denn so schnell abgetrocknet und angezogen?«, fragte Lola.
»Sie ist sehr flink«, sagte der Mann.
»Sind Sie sicher, dass sie gegangen ist?«, fragte Lola. Sie war am Boden zerstört.
»Ich habe sie weggehen sehen«, sagte er. »Ich habe ihr auf Wiedersehen gesagt.«
»Wissen Sie, wie sie unter Wasser atmet?«, fragte Lola.
»Ich weiß nicht, wie sie außerhalb des Wassers atmet«, sagte der Mann.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Lola.
»Atmen ist eine komplizierte Sache«, sagte er.
»Haben Sie die Telefonnummer der Unterwasserstripperin?«, fragte Lola.
»Nein«, sagte er. »Wie alt bist du?«
»Ich bin dreizehn«, sagte sie. »Ich habe die Show drei Mal gesehen und komme nicht darauf, wie sie unter Wasser atmet.«
»Vielleicht musst du es gar nicht wissen«, sagte er. »Verbringst du viel Zeit unter Wasser?«
»Nein«, sagte Lola.
»Mit wem hast du die Show gesehen?«, wollte der Mann an der Tür von ihr wissen.
»Mit meinem Vater«, sagte sie. »Er holt gerade das Auto.«
»Hast du einen Moment Zeit? Ich könnte dir meine Frau Margot vorstellen«, sagte er. »Sie ist die andere Stripperin, die Über-Wasser-Stripperin.«
»Ja, gerne«, sagte Lola.
»Ich heiße Jackie«, sagte er. »Jackie Clancy.«
Hinter der Bühne des Tivoli herrschte organisiertes Chaos. Ein Chaos aus Menschen, Kostümen, Schuhen, Requisiten,
Zaubertricks und einem dressierten Hund. Auf dem Gang zog sich der Hypnotiseur gerade den Schnurrbart vom Gesicht. Lola war verblüfft, wie alltäglich und wenig hypnotisch der Hypnotiseur ohne seinen Schnurrbart aussah.
»Bist du jüdisch?«, fragte Jackie Clancy auf dem Weg zur Garderobe seiner Frau Margot.
»Ja«, sagte sie. »Woher wissen Sie das?«
»Du siehst jüdisch aus«, sagte er.
»Ich habe die Unterwasserstripperin nicht gesehen«, sagte Lola zu Edek, als sie ins Auto stieg. »Aber ich habe die andere Stripperin kennengelernt.«
»Sie ist ebenfalls sehr talentiert«, sagte Edek.
»Sie ist sehr nett«, sagte Lola.
Seit diesem Tag traf Lola sich mittwochs nach der Schule mit Jackie Clancy zum Kaffee. Jackie spendierte Lola bei Hoagey's auf der Collins Street eine heiße Schokolade mit geschmolzenem Nougat, und gemeinsam warteten sie auf Margot, die nach ihrer Matinee-Vorstellung zu ihnen stieß.
Jackie war früher mal Boxer gewesen, jetzt war er Komiker. Manchmal wirkte er so deprimiert, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Dann war er wieder so lustig, dass Lola beinahe umkam vor Lachen. Sie bildeten ein seltsames Trio, die Stripperin in Straßenkleidung, das Schulmädchen in der Uniform der University High School und der Ex-Boxer und Komiker mit seinen ungekämmten, häufig fettigen schwarzen Haaren.
Jackie und Margot Clancy waren Engländer. Sie waren 1956 nach Australien ausgewandert. Lola fühlte sich wohl bei den beiden. Margot und Jackie hörten einander zu. Sie hörten Lola zu. Und sie
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