Lola Bensky
sicher, was sie eigentlich in Ordnung bringen wollte. Hätte sie gewusst, dass ihr mit Renia Bensky keine zehn Jahre mehr blieben, hätte sie sich nicht entspannt.
Lola stand auf. Ihr Mann schlief noch. Sie war verheiratet und hatte zwei Kinder. Sie dachte, dass sie vermutlich glücklich war. Manchmal musste sie mitten in der Nacht aufstehen und sich in dem alten edwardianischen Haus in Melbourne, in dem sie mit ihrem Mann und ihren Kindern lebte, am Ende des Flurs auf den Fußboden setzen. Dann saß sie dort und versuchte, sich zu beruhigen. Sie war mit hämmerndem Herzen aufgewacht. Das Hämmern war so stark, dass sie das Gefühl hatte, das Herz würde ihr in der Brust zerspringen. Meist passierte das, wenn sie zu viel gegessen hatte. Manchmal rührte sich ihr Mann ein wenig, wenn sie wieder ins Bett kam, aber er fragte nie, was los war. Lola dachte, sie könnte sich glücklich schätzen, ihren Mann zu haben.
Seit Lola zehn war und größer als ihre Mutter, überschüttete Renia sie tagtäglich mit einem Schwall guter Ratschläge und Ermahnungen. Und allesamt liefen sie auf das Gleiche hinaus. In Renias Worten: »Welcher Junge will schon ein dickes Mädchen heiraten.« Angefangen hatte es mit: »Welcher Junge will schon eine dicke Freundin.« Danach kam: »Wel
cher Junge meint es schon ernst mit einem dicken Mädchen.«
Lolas Mann war ein großer, blonder ehemaliger Rockstar. Jedenfalls in großen Teilen Australiens. Er hatte deutlich gemacht, dass er jemand Schlankeres bevorzugt hätte. Unklar war nur, warum er sie eigentlich geheiratet hatte.
Lola hatte derzeit nicht ihr Höchstgewicht. Genau genommen wog sie weniger als seit Jahren. Sie fühlte sich so leicht, dass sie Angst hatte, sie könnte sich auflösen. Ihre Fesseln, die selbst jetzt dicker waren als durchschnittliche Fesseln, fühlten sich zu schwach an, um ihr Gewicht zu tragen. Lola, die einen Meter siebzig groß war, fühlte sich substanzlos. Die Waage sagte, dass sie noch immer fünfzehn Kilo schwerer beziehungsweise acht Zentimeter kleiner war, als sie hätte sein sollen. Doch sie fühlte sich schmächtig.
Seit zehn Wochen hielt sie Diät. Jeden Morgen bereitete sie sich einen großen Salat für den ganzen Tag. Sie mischte zwei Dosen Thunfisch mit einem großen geschredderten Kohl, zwei großen geraspelten Möhren, fünf geraspelten Zucchini und zwölf gehackten Radieschen. Lola hackte die Radieschen, da sie fand, dass geraspelte Radieschen zu wässrig wurden. Sie machte den Salat mit Salz und Pfeffer und einem halben Messbecher Zitronensaft an. Es schmeckte nicht toll, musste aber kräftig gekaut werden und enthielt jede Menge Ballaststoffe.
In der Küche bereitete sie das Frühstück für die Kinder. Sie liebte ihre Kinder. Es waren schöne Kinder. Sie waren es wert, mit jemandem verheiratet zu sein, für den man sich zu dick fühlte. Lola fand nicht, dass ihr Mann ein schlechter Ehemann war. Sie glaubte, dass die Niedergeschlagenheit, die sie empfand, mehr mit ihr selbst zu tun hatte als mit ihm.
Lola und Mr. Ex-Rockstar waren seit neun Jahren ver
heiratet. Ihre Hochzeit war ein komplettes Fiasko gewesen. Am Vormittag hatte Lola im Fernsehen die vierstündige Live-Sendung moderieren müssen, die sie jeden Samstagvormittag moderierte. Sie saß in den Studios von Kanal O in Nunawading, Melbourne, an einem Tisch, interviewte Rockstars und besprach Platten. Die anderen drei Frauen in der Show grimassierten ein bisschen und tanzten zu der Musik, die in den Charts gerade ganz oben stand. Lola blieb hinter ihrem Tisch sitzen.
An ihrem Hochzeitstag fuhr Lola vom Studio nach Hause, wo sie feststellte, dass die Friseuse, die ihr eigentlich die Haare hätte machen sollen, wegen ihres Freundes einen Nervenzusammenbruch hatte und nicht erschienen war. Lola massierte ein wenig Talkumpuder in ihre Haare, um das Fett von der Creme aufzunehmen, mit der sie ihr Fernseh-Make-up entfernt hatte. Durch den Talkumpuder sahen ihre Haare nur noch schlimmer aus.
Renia Bensky fing an zu weinen, als sie Lolas bodenlanges Hochzeitskleid aus rotbraunem Samt sah. »Du hast es doch schon gesehen«, sagte Lola zu ihrer Mutter.
»Da hat es nicht so schlimm ausgesehen«, sagte Renia schniefend.
Bei der Feier hielten sich die Gäste an ihre jeweilige Gruppe. Die Familie des Bräutigams und deren Freunde, die Church-of-England-Brigade, wie Lola sie im Stillen nannte, waren untereinander schon steif, und in Gegenwart der Juden erstarrten sie geradezu.
Die Juden dagegen
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