Lola Bensky
Mutter, die sie anfassen und trösten konnte. Noch Jahre nachdem Renia gestorben war, glaubte Lola, Renia auf der Straße, in Geschäften oder in öffentlichen Verkehrsmitteln zu sehen. Sie rannte ans Telefon, wenn es klingelte, und hoffte, Renia sei am anderen Ende der Leitung. Sie kaufte Renia Geschenke, und erst nachdem sie die Geschenke bezahlt hatte, fiel ihr wieder ein, dass Renia tot war. Renia würde keine Geschenke mehr brauchen, keine Telefonate mehr machen und nie mehr spazieren gehen.
Zehn Jahre nach dem Tod ihrer Mutter stand Lola in einem kargen kleinen Postamt in Havanna. Das Postamt befand sich in einer der vielen Straßen Havannas, die von ehemals schönen und mittlerweile baufälligen Gebäuden gesäumt waren, deren Fassaden zur pastellfarbenen Blässe alternder Brautjungfern verblichen waren. In ihrem spärlichen Spanisch versuchte Lola, eine Postkarte an ihre Mutter aufzugeben. Einige Minuten nachdem der sehr entgegenkommende Angestellte ihr versichert hatte, dass die Postkarte ihren Zielort erreichen werde, ging Lola auf, dass kein Postamt der Welt irgendetwas an den Ort schicken konnte, an dem Renia sich befand. Sie hatte vergessen, das Renia tot war. Sie war ganz von dem Gedanken in Anspruch genommen gewesen, dass Renia begeistert wäre, eine Postkarte aus Havanna zu bekommen.
Lola hatte Renia immer Postkarten geschickt, wenn sie verreiste. Auf diesen Postkarten konnte Lola all die liebevollen Sätze loswerden, die ihr in Renias Gegenwart in der Kehle steckenzubleiben schienen. Lola vermisste Renia. Sie glaubte nicht, dass sie jemals aufhören würde, sie zu vermis
sen. Sie war sich nicht sicher, was genau an Renia sie vermisste. Sie hatte versucht, es herauszufinden. Die langen, gemütlichen Gespräche mit ihr konnten es nicht gewesen sein. Ihre Gespräche mit Renia waren meist kurz gewesen. Sie vermisste auch keine gemeinsamen Unternehmungen. Sie hatten nicht viel gemeinsam unternommen. Sie waren nicht zusammen ins Kino oder zum Friseur gegangen, sie waren nicht einmal miteinander spazieren gewesen. Hin und wieder waren sie zusammen im Supermarkt einkaufen, was zu Lolas Überraschung jedes Mal eine merkwürdig wohltuende Erfahrung war.
Lola glaubte nicht, dass sie nach New York hätte ziehen können, wenn Renia noch am Leben gewesen wäre. Sie glaubte nicht, dass sie es geschafft hätte, sie zu verlassen. Edek hatte es Lola leicht gemacht, nach New York umzuziehen. Er wollte, dass sie nach New York ging. Er sah Amerika als das goldeneh medinah , das Land der Möglichkeiten. »Ich komme später nach«, sagte er. »Du weißt, dein Mann möchte sehr gerne dorthin«, fügte er hinzu.
Ja, Lola wusste, dass ihr Mann in New York leben wollte. Er hatte davon geträumt, in New York zu leben, seit er als bettelarmer Arbeiterjunge in einem der äußeren Vororte von Sydney aufgewachsen war. Obwohl er ihr Mann war, nannte Lola ihn in Gedanken selten ihren Mann. Sie nannte ihn Sweetheart und dachte an ihn als Mr. Someone Else. Das hatte mit den endlosen Erklärungen zu tun, die sie vor ihren Freunden, ihren Nachbarn, ihrer Ärztin, ihrem Zahnarzt und beinahe jedem, den sie kannte, hatte abgeben müssen, als sie Mr. Ex-Rockstar verlassen hatte. »Ich liebe jemand anderes«, hatte sie wieder und wieder gesagt. Mr. Someone Else liebte sie. Und er liebte Edek. Lola wusste, dass er sich mit Edek verschworen hatte, um sicherzustellen, dass Edek ebenfalls nach New York zog.
Lola beschloss, das Inderal nicht zu nehmen. Sie fühlte sich zu alt, um Pillen einzuwerfen. Es wirkte unmanierlich und nicht gerade elegant, in ihrer Handtasche verstohlen nach Tabletten zu kramen. »Denkst du, du wirst noch weitere Bücher über das ultraprivate Detektivbüro schreiben?«, fragte Patrice Pritchard.
»Ich weiß es nicht«, sagte Lola. »Ich muss erst Schlomo in SoHo fertigschreiben, ehe ich darüber nachdenken kann.«
»Das ist ein großartiger Titel«, sagte Patrice Pritchard.
»Vielleicht ändere ich ihn noch«, sagte Lola.
»Die Leser lieben Pimp«, sagte Patrice Pritchard.
»Wenn ich an Pimp denke, ist sie meist Petrushka Inge Maria Pagenstecker«, sagte Lola. Sie kam sich ein wenig gemein vor zu sagen, sie werde den Titel ihres neuen Buches möglicherweise noch ändern, nachdem Patrice ihn gerade gelobt hatte. Sie hatte nicht die Absicht, ihn zu ändern. Er klang ganz nett. Doch irgendetwas an Patrice reizte in Lola den Wunsch zum Widerspruch.
»Sie mögen Pimp, obwohl sie dauernd herumschreit?«, fragte
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