Lola Bensky
Lola.
»Ja«, sagte Patrice. »Ich denke, dass nicht genügend Frauen herumschreien oder ihre Meinung sagen. Frauen sprechen sehr leise, besonders am Arbeitsplatz oder in Gegenwart von Männern.«
»Mir gefällt, wie sie herumschreit«, sagte Lola. »Besonders weil ich selbst solche Schwierigkeiten habe zu schreien.«
Es war für Lola eine große Erleichterung, sich in Pimp zu verwandeln. Pimp war sich ihres Platzes in der Welt sehr gewiss. Bis zum Alter von einem Jahr hatte Petrushka Inge Maria Pagenstecker Rachel Feinblatt geheißen. In der Hoffnung, eine gewisse Distanz zwischen Rachel Feinblatt und ihre jüdische Abstammung zu legen, hatten ihre Eltern, Moishe
und Fela Feinblatt, Rachels Namen in Petrushka Inge Maria Pagenstecker ändern lassen. Pimp war dunkelhaarig, groß und vollbusig. Moishe und Fela Feinblatt hatten keine Ahnung, wie ihre Tochter, die ein Meter achtundsiebzig groß war, so groß werden konnte. Sie selbst waren beide ungewöhnlich klein. Auch die gesunde Gesichtsfarbe ihrer Tochter, ihr mächtiger Busen, ihre Berufswahl und ihr Selbstvertrauen verwirrten sie.
Pimp war lizenzierte Privatdetektivin. Sie besaß ein eigenes Detektivbüro. Sie war siebenundvierzig. Sie war dreimal geschieden und hatte drei Kinder, Esther, Elijah und Ezekiel. Die drei Kinder stammten aus ihrer ersten Ehe. Ihr erster Exmann, David Feingold, hatte eingewilligt, das die Kinder den Namen Feinblatt erhielten, in dem, wie Pimp ihm erklärt hatte, sein eigener Name zur Hälfte enthalten war. David Feingold war ein sehr vernünftiger Mann, anders als Pimps Exmänner Nummer zwei und drei, und Pimp wusste das zu schätzen.
Wenn Pimp zur Begrüßung gefragt wurde, wie es ihr ging, hielt sie im Gegensatz zu Lola nie inne, um tatsächlich darüber nachzudenken. Sie fragte sich auch nie, ob ihre Nieren gut funktionierten oder ihr Magen-Darm-Trakt störungsfrei arbeitete. Ihre körperliche Befindlichkeit war etwas, worüber Pimp selten nachdachte. Ein Zwicken im Bauch, Beschwerden in den Beinen oder Armen oder ein Schmerz, eine Entzündung, ein Pochen, ein Krampf oder ein Stechen in irgendeinem anderen Körperteil wurden weder gedeutet noch obsessiv beobachtet.
Lola versuchte, ihre Ängste vor möglichen körperlichen Leiden in Schach zu halten. Sie wusste, ihre Angst vor Krankheit oder Verfall oder irgendeiner körperlichen Störung hatte damit zu tun, dass sie das Kind von Überlebenden eines
Vernichtungslagers war. Sie versuchte, sich das ins Gedächtnis zu rufen, sobald sie feststellte, dass sie wegen ihrer Milz oder ihrer Nebennieren in Panik geriet. Lola wusste, dass einem Körper Schreckliches angetan werden konnte. Sie wusste, dass in der Männerversuchsstation in Block 28 in Auschwitz den Häftlingen petroleumhaltiges Serum injiziert und auf Armen und Beinen verrieben wurde. Das verursachte riesige Abszesse, die eine schwarze, nach Petroleum stinkende Flüssigkeit enthielten. Die Deutschen führten solche Experimente durch, um Selbstverstümmelungen zur Vermeidung des Militärdienstes besser identifizieren zu können. Die Experimente glichen Kinderspielen mit willkürlichen Regeln und unsinnigen Schlussfolgerungen.
»Großartig«, antwortete Pimp jedes Mal, wenn jemand nach ihrem Befinden fragte. Das war ein Wort, das Lola ihren Stimmbändern niemals abringen konnte. Lola fand, dass nur sehr wenige Dinge großartig waren. Beinahe alles konnte relativiert werden.
Wenn Mr. Someone Else gefragt wurde, wie es ihm ging, sagte er häufig »fabelhaft«. Diese Antwort ließ Lolas Angstpegel in die Höhe schnellen. Sie verspürte den Drang, ein Gebet zu sprechen, auf Holz zu klopfen oder fünfmal zu blinzeln. Sie hatte keinerlei Hinweise dafür, dass das Zwinkern, die Gebete oder das eilige Klopfen auf Holz etwas bewirkten. Andererseits, sagte sie sich, ließ sich auch kaum belegen, dass sie es nicht taten.
Mr. Someone Else sagte »fabelhaft« mit der Freude eines Menschen, der sein Glück genießt. Glücklich zu sein bereitete ihm keinen Kummer. Lola dämpfte ihr Glücksgefühl. Sie ließ es nur streng dosiert aufscheinen, damit es weder für sie selbst noch für andere zu augenfällig wurde. Unverstellte Freude war etwas, was sie trotz dreier Analytiker auf zwei
Kontinenten und Tausenden Stunden auf deren Couch vermutlich niemals meistern würde. Unsicherheit und Angst waren ihr weit vertrauter.
Mr. Someone Else wachte beinahe jeden Morgen glücklich auf. Glücklich und zufrieden. Und dankbar. Dankbar für Lola,
Weitere Kostenlose Bücher