Lola Bensky
Vernichtungslager, denen sie begegnet war, schienen irgendeine Macke zu haben. Allzu oft waren sie mürrisch, übermäßig reserviert oder wie umnebelt.
Kein Wunder, dass es für Lola eine Erleichterung war, sich in Pimp zu verwandeln. Pimp ging Kummer oder Hindernissen nicht aus dem Weg. Pimp zweifelte nicht. Sie ängstigte sich nicht. Sie tat, was zu tun war. Wenn sie auf die andere
Seite des Landes fliegen musste, setzte sie sich in ein Flugzeug und flog hin. Sie konnte in einer überfüllten U-Bahn in der Mitte sitzen. Sie konnte in großen Menschenmengen stehen. Sie hinterfragte nicht jede ihrer Bewegungen. Sie aß, worauf sie Appetit hatte. Sie hatte keine Ahnung vom Kaloriengehalt eines Apfels, einer Möhre, eines gekochten Eis oder einer Tafel Schokolade.
Wenn Lola in Pimp schlüpfte, fühlte sie sich ausgeglichen. Wenn sie die großen und kleinen Momente in Pimps Leben neu arrangierte und zueinanderfügte, versetzte sie das in einen Zustand heiterer Gelassenheit. Mit einem seltenen Gefühl inneren Friedens verknüpfte sie Wörter zu Sätzen. Mit der Abgeklärtheit eines Zen-Priesters verschob sie Strichpunkte und Anführungszeichen. Es lag ein befriedigendes Gefühl von Aufgeräumtheit darin, Welten und Wörter zu ordnen. Versprechen, Vokale und Ereignisse richtig zu platzieren oder durch andere zu ersetzen.
Lola liebte Wörter. Sie waren so verlässlich. Verben und Pronomen beschlossen nicht plötzlich, dass sie nicht mehr miteinander reden wollten. Sätze blieben stabil. Wendungen und Satzteile entwickelten keine Abneigungen oder wurden unberechenbar. Schockierende Offenbarungen zwischen Vokalen und Konsonanten unterstanden Lolas Kontrolle.
Ein einzelnes Wort konnte so vollkommen sein. Ein Wort wie Plethora . Plethora enthielt keine Leerstelle. Lola fühlte sich von Leerstellen erfüllt. Leerstellen und Abwesenheiten konnten einen Menschen auf erstaunliche Weise ausfüllen. Sie schienen viel Raum einzunehmen. Lola fragte sich oft, wie eine Abwesenheit – etwas, das gar nicht da war – so stark präsent sein konnte. Die Abwesenheit von Menschen zum Beispiel. Die Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, in deren Mitte sie hätte aufwachsen sollen. Die Großeltern, die sie nie
kennengelernt hatte, die sie aber dennoch vermisste. Oder die Abwesenheit von Antworten und die Abwesenheit von Fragen. Fragen, die nicht beantwortet wurden, und Fragen, die nie gestellt wurden. Die Abwesenheit ihrer Mutter. Ihre Mutter, die sie im Leben so oft als abwesend empfunden hatte, war als Tote sehr abwesend.
Es gab Worte, die mit Abwesenheit aufgeladen waren. Goodbye zum Beispiel. Lola brachte das Wort nicht über die Lippen, für sie klang es nach einen Abschied, der so unwiderruflich und endgültig war wie der Tod. »Bis bald, bis bald«, trällerte sie, sobald jemand, den sie liebte oder auch nur mochte, goodbye sagte. Die Abwesenheit, die Leere durchbohrte Lola und hinterließ große Lücken, sie fühlte sich schwankend, ohne Halt. Im Kreis von Menschen, die sie liebten, konnte Lola sich einsam und wehrlos fühlen.
Manchmal, wenn Mr. Someone Else sie berührte, wenn sie mit ihrem Sohn spazieren ging oder sich mit Mrs. Gorgeous unterhielt, fühlte Lola sich komplett. Und in Frieden mit sich. Ein Friede, der sich in ihren Knochen und hinter ihrer Stirn ausbreitete. Das gleiche Gefühl inneren Friedens, das sie empfand, wenn sie Wörter, Absätze und Kapitel montierte und zerlegte.
Es war überraschend befriedigend, die Einzelteile einer Kriminalhandlung zu einem Ganzen zusammenzufügen. Als würde man die unregelmäßigen Teile eines Puzzles zu einem klaren Bild zusammenfügen. Alle Details waren vorhanden. Sie waren sichtbar. Nichts fehlte. Es gab keine losen Enden und keine ausgefransten Kanten. Es beruhigte Lola, die Fälle aufzudröseln und aufzudecken, die das ultraprivate Detektivbüro untersuchte. Rätselhaftes und Alarmierendes zu entschlüsseln und in seine Einzelteile zu zerlegen.
Früher hatte Lola geglaubt, dass die Psychoanalyse das für
sie übernehmen und alles Störende oder Quälende aufspüren und beseitigen würde. Sie hatte geglaubt, Psychoanalyse sei die Antwort. Inzwischen sah sie das weniger idealistisch. Eine Analyse konnte helfen, doch sie konnte die fest verzurrte Infrastruktur ihrer Psyche weder reparieren noch renovieren, und schon gar nicht neu zusammensetzen. Sie hatte gedacht, nach den Jahrzehnten der Analyse müsste sie wie neu geboren sein. Stattdessen kämpfte sie mit den gleichen
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