Lola Bensky
hatte Lola sich auf Cocktailpartys in Augenhöhe mit lauter Taillen wiedergefunden. In einer Gruppe von dreißig bis vierzig Personen war sie die Einzige, die saß.
Für Lola waren die Agoraphobie und das Gefühl zu fallen grauenhaft gewesen. Sie hoffte verzweifelt, dass die Agoraphobie niemals wiederkehrte. Doch es gab keine Garantie. Anders als eine Grippe war die Agoraphobie nichts, wogegen man sich impfen lassen konnte. Sie hatte herausgefunden, dass es eine Verbindung gab zwischen Agoraphobie und Menschen, die Schwierigkeiten mit der räumlichen Orientierung hatten. Das hatte mit dem vestibulären System zu tun, das bei den meisten Säugetieren zum Gleichgewichtssinn und dem Gefühl für räumliche Orientierung beiträgt. Vom
Vestibulum im Innenohr aus werden über den Vestibularapparat Signale an die Nervenkerne gesendet, die Augenbewegung und Haltung kontrollieren und den Menschen aufrecht halten. Lolas Vestibularapparat hatte ihren Nervenkernen ganz offensichtlich die falschen Signale gesendet.
Räumliche Orientierung war Lola schon immer schwergefallen. Wenn sie sich einer vertrauten Straße aus einer anderen als der gewohnten Richtung näherte, hatte sie Schwierigkeiten herauszufinden, wo sie sich befand. Räumliche Zusammenhänge waren nie ihre Stärke gewesen, auch zu besten Zeiten nicht. Sie fand es schon schwierig, eine Spülmaschine einzuräumen. Was wohin passte, war nicht einfach zu erkennen.
Vor ein paar Jahren hatte die inzwischen dreiundzwanzigjährige Mrs. Gorgeous aufgestöhnt und gesagt: »Jeder, der mit Lichtgeschwindigkeit Kalorienzahlen ausrechnen kann, ist in der Lage, eine Spülmaschine richtig zu beladen!« Lola hatte Mrs. Gorgeous mit Begeisterung von ihrem dysfunktionalen vestibulären System erzählt.
Es gab eine Reihe von Phobien, die Lola gerne anstelle der Agoraphobie auf sich genommen hätte. Zum Beispiel die Ablutophobie (Angst vor dem Baden, Waschen oder Putzen), die Astraphobie (Angst vor Blitz und Donner), die Hylophobie (Angst vor Bäumen, Wäldern oder Holz), die Pediophobie (Angst vor Puppen) oder, die beste von allen, die Coulrophobie (Angst vor Clowns). Lola begeisterte sich weder für Donner und Blitz noch für Bäume und Wälder, auch nicht für Puppen. Und sie hätte problemlos ohne Clowns leben können.
Die zweite Runde der Panikattacken und der sie begleitenden Agoraphobie hatte angefangen, als Lola sechsundvierzig war, vier Jahre nachdem sie gemeinsam mit ihrem Sohn,
Mrs. Gorgeous, dem Mann, für den sie Mr. Ex-Rockstar verlassen hatte, und dessen Tochter nach New York gezogen war. Mit sechsundvierzig hatte Lola außerdem zum ersten Mal in ihrem Leben eine Depression. Mit der Depression kamen Gedanken an scharfe Klingen, Tablettendöschen, hohe Gebäude und die Verlockung des Todes.
Nicht, dass die Jahre davor eine leichte Übung gewesen wären. Zwei Jahre nachdem sie Mr. Ex-Rockstar verlassen hatte, war ihr Gewicht allmählich aus dem Ruder gelaufen. Sie wurde dicker denn je. Sie und der Mann, für den sie Mr. Ex-Rockstar verlassen hatte, mussten Erkundungsausflüge zu bestimmten Restaurants unternehmen, um zu klären, ob Lola auf die Stühle passte, bevor sie dort einen Tisch reservieren konnten. Lola stellte fest, dass Stühle ohne Armlehnen, die für sie bequemer waren, in Restaurants nicht gerade verbreitet waren.
Lola hatte außerdem eine Abtreibung gehabt. Eine Woche nachdem sie Mr. Ex-Rockstar verlassen hatte, war sie schwanger geworden. Sie hatte entschieden, dass der Zeitpunkt für ein neues Baby sehr ungünstig wäre, eine Entscheidung, die sie noch immer bereute. Und ihre Mutter war gestorben. Zuerst hatte sich ihr Bauch aufgebläht, dann war ein metastasierender Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert worden, und dann war sie gestorben, alles innerhalb von exakt vier Monaten. Die arme Renia hatte kaum begriffen, wie ihr geschah. Eines Tages hatte sie sich im Spiegel angesehen, als Lola ihr in die Badewanne half, und mit zitternder, verstörter Stimme gefragt: »Was ist passiert?« Lola verstand Renias Verwirrung. Im Spiegel wirkte Renia beinahe genauso abgemagert, wie sie vermutlich einst in Auschwitz gewesen war.
Nach Renias Tod weinte Lola wochenlang. Sie wusste nicht, dass sie für den Rest ihres Lebens um Renia weinen würde.
Lola vermisste ihre Mutter. Sie vermisste die Mutter, die sie hatte, und die Mutter, die sie nicht hatte. Sie vermisste Renias Glamour und ihre Wut. Sie vermisste ihr Parfüm. Und sie sehnte sich weiter nach einer
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