Lola Bensky
Problemen wie ehedem. Möglicherweise mit mehr Verständnis und, seit die Agoraphobie abgeklungen war, mit größerer innerer Ausgeglichenheit. Doch gab es so vieles, das sie einfach nicht loswurde.
Noch immer wachte sie häufig morgens auf und fühlte sich von Angst überwältigt. Dann musste sie aufstehen, herumgehen, sich die Zähne putzen und sehen, dass sich nichts verändert hatte. Dass ihre Zähne noch immer gleich aussahen. Dass ihre Haare und ihre Augen und ihre Nase noch da waren. Dass sie in SoHo, New York, war. Dass einfach nur wieder ein ganz normaler neuer Tag angebrochen war. Und dass nichts Unheilvolles in der Luft lag. Im Gegensatz zu Mr. Someone Else wachte Lola niemals gelassen und fröhlich auf. Sie stand auf, sobald sie erwachte, um so schnell wie möglich das Zwielicht des Unbewussten von sich abzuschütteln. Sie musste sich selbst demonstrieren, dass sie zu Hause war. Dass alles noch genau so war, wie es gestern und vorgestern gewesen war.
Lola sah Patrice Pritchard an. Sie hatte keine Ahnung, was Patrice gerade gesagt hatte. Lola hatte mitten im Gespräch abgeschaltet, obwohl sie versuchte, sich das abzugewöhnen, und hatte nichts von dem mitbekommen, was Patrice gesagt hatte. Jetzt redete Patrice über Softcover und Taschenbücher für den Massenmarkt und Autorenprofile.
»Nächsten Monat starten wir mit der Werbekampagne für das Taschenbuch«, sagte Patrice. »Wir positionieren dich als Autorin einfühlsamer Porträts berühmter Persönlichkeiten.«
»Warum berühmt?«, fragte Lola. »Ich habe haufenweise Leute interviewt, von denen noch nie jemand etwas gehört hat. Zum Beispiel einen Schuhmacher aus Usbekistan, eineiige Zwillinge, die beide Nierenchirurgen sind, einen Clown und einen Herzchirurgen.«
»Warum einen Herzchirurgen?«, fragte Patrice Pritchard.
»Herzchirurgie hat mich schon immer fasziniert«, sagte Lola. »Sie erfordert beides, brutale Kraft und enorme Sensibilität.«
»Du bist eigenartig«, sagte Patrice Pritchard. »Ich meine das nicht negativ«, fügte sie hinzu. »Was ich meine, ist, du bist ein sehr einfühlsamer Mensch. Und eine einfühlsame Schriftstellerin.« Lola machte es nichts aus, eigenartig genannt zu werden. Sie empfand es nicht als beleidigend. Sie fand es ein wenig ermüdend, für einfühlsam gehalten zu werden.
Wenn man sie nicht für eine einfühlsame Schriftstellerin hielte, hätte sie niemals Mr. Someone Else kennengelernt. Man hatte sie gebeten, eine Reportage über seine todkranke Frau zu schreiben, eine Lyrikerin. »Wir brauchen jemanden, der einfühlsam ist«, hatte der Redakteur gesagt. Lola war Mr. Someone Else kurz begegnet. Sie hatten zwei oder drei Minuten miteinander gesprochen, bevor sie seine Frau interviewte. Lola wusste, dass Mr. Someone Else und seine Frau eine unglückliche Ehe geführt und getrennt gelebt hatten, als man bei ihr Brustkrebs diagnostizierte. Er war zu ihr zurückgekehrt und hatte sie während der zwei Jahre ihrer Krankheit gepflegt. Zwei Wochen nach Erscheinen von Lolas Artikel war die Frau von Mr. Someone Else gestorben. Sie war achtunddreißig. Mr. Someone Else war zweiunddreißig.
Ein paar Wochen später sah Lola ihn in einer kleinen Buchhandlung in einem zentrumnahen Vorort von Melbourne wieder. Er rannte fast auf sie zu. »Ich bin auf der Welt, um mit Ihnen zusammen zu sein«, sagte er. Lola war sprachlos. So war sie selten begrüßt worden. Sie fing an zu lachen. »Mein ganzes Leben lang habe ich von Ihnen geträumt«, sagte er. Lola wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie fing wieder an zu lachen. Sechs Wochen später waren sie ein Paar.
»Ich wollte nicht sagen, dass du eigenartig bist«, sagte Patrice.
»Es macht mir nichts aus, wenn man mich für eigenartig hält«, sagte Lola.
»Aber ich halte dich nicht für eigenartig«, sagte Patrice. »Ich halte dich für sehr einfühlsam. Und sensibel.«
Vielleicht war ihre sogenannte Sensibilität für einige ihrer Phobien verantwortlich, dachte Lola. Bis Mitte zwanzig war sie furchtlos gewesen. Sie hatte alles tun, überall hingehen können. Ihr dritter Analytiker hatte ihr erklärt, sie sei kontraphobisch gewesen. Noch heute, mit fast zweiundfünfzig, erlegte sie sich endlose Einschränkungen auf. Im Kino oder im Theater konnte sie nur am Gang sitzen. Sie konnte die U-Bahn nicht benutzen. Sobald sie versuchte, dort hinunterzusteigen, würde ihr Herz wie verrückt zu klopfen beginnen.
»Unsere Headline für die Taschenbuchkampagne«, sagte Patrice
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