Lola Bensky
und Uhrzeit, schien durchaus nicht ungewöhnlich zu sein. Lola beobachtete einen Nachbarn, als er die Mitteilung las. Er war Jude und schien nicht in Panik zu verfallen.
Lola hatte geglaubt, Vernichtung bezöge sich ausschließlich auf die Ermordung von Juden. Sie fand heraus, dass sie auch Insekten und Nagetiere einschloss. Der Kammerjäger kam jeden Monat ins Haus. Es dauerte einige Monate, bis Lola bei dem Gedanken an diese Massenvernichtung nicht mehr alarmiert war.
Lola wusste, wenn sie nach Hause kam, würde Mr. Someone Else in seinem Atelier malen und dabei laut Musik hören. Wahrscheinlich Bob Dylan. Glücklicherweise befand sich Lolas Arbeitszimmer am anderen Ende des Lofts. Und wenn sie ihre Tür zumachte, war von Bob Dylan nichts mehr zu hören. Lola wusste auch, dass Mr. Someone Else, wenn er sie sähe, seine Pinsel beiseitelegen, zu ihr kommen und sie küssen würde. Er küsste sie nie nur einmal. Er überhäufte sie mit Küssen, bis sie entweder zu lachen anfing oder sich seinem Griff entwand. Genau wie ihre Mutter.
Renia entwand oder vielmehr entriss sich immer Edeks Griff, entzog sich seinen Kniffen und Klapsen. Kopfschüttelnd löste sie sich aus Edeks Armen, als wäre sie für derlei
Albernheiten viel zu beschäftigt. Wenn Edek nach der Arbeit nach Hause kam, versuchte er jedes Mal, Renia an sich zu ziehen oder ihr einen Klaps auf den Po zu geben. Er versuchte auch, ihr übers Haar zu streichen oder sie in die Arme zu nehmen. Es gelang ihm nie. Renia entschlüpfte ihm jedes Mal.
Edek liebte Renia schon sehr lange. Er war sofort von ihr hingerissen gewesen, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Renia war zwölf, beinahe dreizehn. Edek war neunzehn, sah gut aus und war reich. Nichts davon beeindruckte Renia. Sie wollte keinen Freund. Sie wollte nicht heiraten. Sie wollte hart arbeiten und Ärztin werden, Kinderärztin. Renia war in jeder Klasse, die sie besuchte, die Beste und erteilte ihren Mitschülern Nachhilfestunden in Mathematik, Naturwissenschaften und Geschichte, und das an vier Abenden in der Woche. Edek hatte sich sehr anstrengen müssen, um langsam Renias Herz zu erobern. Und die Ankunft Hitlers mehrere Jahre später hatte die Sache besiegelt. Renia und Edek heirateten ein paar Tage, bevor man sie und alle Juden aus Lodz zwang, ihre Häuser zu verlassen, und sie im Ghetto einsperrte.
Lola war fast zu Hause. Sie wusste, dass sie einen Streit zwischen Pimp und Schlomo klären musste. Pimp hatte sich am Morgen bereits über Harry geärgert, der immer noch in den schäbigen Räumen des ultraprivaten Detektivbüros im East Village hockte, während Pimp und Schlomo nach SoHo gezogen waren. Harry waren die Gegend und die drei Delikatessengeschäfte ans Herz gewachsen, aus denen er sich jeden Tag die Zutaten seines Mittagessens zusammenstellte. Und Pimp hatte es nicht geschafft, früher aus dem Mietvertrag herauszukommen. Harry hatte den Schreibtisch, den Pimp
benutzte, wenn sie ins East Village kam, komplett aufgeräumt. Als sie zum Arbeiten vorbeikam, fand sie weder die Unterlagen, die sie suchte, noch ihre Lesebrille.
»Sei nicht so pingelig«, sagte Pimp zu Harry.
Harry war beleidigt. »Ich bin nicht pingelig«, sagte er. »Ich bin akribisch. Das ist der Grund, warum wir finden, wen und was wir suchen.«
»Du bist schlimmer als akribisch«, schrie Pimp. »Und schlimmer als akribisch ist pingelig.«
Lola war verwirrt gewesen, dass sie versuchte, zwischen akribisch und pingelig zu unterscheiden. Dann hatte sie sich mit der Frage abgelenkt, ob sie wohl so schreien könnte wie Pimp. Vermutlich würde ihr der Schrei in der Kehle steckenbleiben und als schwaches Quietschen herauskommen.
Pimp schrie jeden an. Immerfort schrie sie Schlomo an.
»Warum schreijste und schreijste und schreijste?«, sagte Schlomo zu Pimp.
»Ich schreije nicht. Ich schreie«, brüllte Pimp. Schlomos jiddischer Akzent trieb sie zum Wahnsinn.
In Pimps Streit mit Schlomo ging es um die Ausrüstung. Schlomo liebte technische Spielereien. Er war zu dem Schluss gekommen, dass er das Bionic Ear mit Booster Kit brauchte, das er in einem Katalog gesehen hatte. Das Bionic Ear mit Booster Kit verstärkte schwache beziehungsweise ferne Geräusche, angeblich mit bemerkenswerter Klarheit.
»Du hast bereits dieses Parabolic Ear, das du nie benutzt«, sagte Pimp.
»Das Parabolic Ear ist geeignet für natürliche Geräusche bis zu einer Entfernung von achtzig Metern«, sagte Schlomo. »In SoHo gibt es keine
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