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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
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eingerichtete Küche mit Korkboden, schlecht gewählt, da sickert Blut sofort ein. Der Juniorverteidiger stupste Natalie, und sie fing an, sich die Pseudo-Notizen zu machen, mit denen man sie beauftragt hatte.
117. In der Umkleide
    Als Natalie Blake sich umdrehte, um sich aus ihrer Robe zu schälen, war Johnnie Hampton-Rowe plötzlich neben ihr, griff nach ihrer Bluse und schob sie mitsamt dem BH beiseite. Sie reagierte verzögert: Er spielte bereits an ihrer Brustwarze, als sie es endlich schaffte, ihn zu fragen, was zum Teufel er da eigentlich mache. Mit der gleichen Kunstfertigkeit, die sie gerade vor Gericht beobachtet hatte, machte er ihren lautstarken Protest zum eigentlichen Vergehen. Ließ umgehend von ihr ab und seufzte: »Schon gut, schon gut, mein Fehler.« Bevor sie sich auch nur umdrehen konnte, war er schon aus der Tür. Und als sie sich wieder gesammelt hatte und das Zimmer verlassen konnte, stand er am anderen Ende des Flurs und alberte mit dem Rest der Mannschaft, besprach die Strategie für den nächsten Tag. Der Juniorverteidiger deutete mit dem Stift auf Natalie. »Drinks. Im Seven Stars. Sind Sie dabei?«
118. Notfallsitzung
    Leah Hanwell verabredete sich mit Natalie Blake an der U-Bahn-Station Chancery Lane. Sie arbeitete ganz in der Nähe, am Empfang eines Fitnessstudios in der Tottenham Court Road. Sie gingen zum Hunterian Museum. Es fing an zu regnen. Leah blieb zwischen zwei gewaltigen klassizistischen Säulen stehen und schaute zu der lateinischen, in eine graue Steinplatte gehauenen Inschrift empor.
    »Können wir nicht einfach ins Pub gehen?«
    »Es wird dir gefallen.«
    Sie hinterließen eine kleine Spende am Eingang.
    »Hunter war Anatom«, erklärte Natalie Blake. »Das hier ist seine Privatsammlung.«
    »Hast du Frank davon erzählt?«
    »Das würde nichts helfen.«
    Ohne Vorwarnung schob Natalie Leah in den ersten Hauptraum, so wie Frank es ein paar Monate zuvor mit ihr gemacht hatte. Leah kreischte nicht, sie schnappte nicht nach Luft und hielt sich auch nicht die Augen zu. Sie ging einfach an all den Nasen und Schienbeinen und Pobacken in ihren Formaldehydlösungen vorbei. Direkt zum Skelett des riesigen O’Brien. Legte die Hand flach auf die Scheibe und lächelte. Natalie Blake kam ihr nach und las dabei aus einem Faltblatt vor, sie musste erklären, immer alles erklären.
119. Schwänze
    Dick und gedrungen und ein bisschen albern, nur wenige Zentimeter hinter der Spitze abgetrennt oder vielleicht auch nur im Sterben geschrumpft. Manche beschnitten, andere sichtlich entzündet. »Macht mich irgendwie so gar nicht neidisch«, sagte Leah. »Dich?« Sie gingen weiter. Vorbei an Hüftknochen und Zehen, Händen und Lungen, Gehirnen und Vulven, Mäusen und Hunden und einem Affen mit einem grotesken Geschwür am Kinn. Als sie bei den weit entwickelten Embryos ankamen, waren sie bereits leicht hysterisch. Riesige Stirnen, winzig kleine Kinne, geschlossene Augen, offene Münder. Natalie Blake und Leah Hanwell machten das Munch-Gesicht, für sie, füreinander. Leah hockte sich hin, um ein erkranktes Exemplar menschlichen Materials zu betrachten, das Natalie nicht erkennen konnte.
    »Du warst dann noch mit im Pub?«
    »Ich bin zwanzig Minuten sitzen geblieben und habe mir die Maserung der Tischplatte angeschaut. Sie haben über den Fall geredet. Dann bin ich gegangen.«
    »Und du glaubst, er hat dasselbe mit dieser Polly gemacht?«
    »Zumindest hatten sie was laufen. Kann sein, dass es auch so angefangen hat. Vielleicht macht er das ja mit allen.«
    »Das Drama nimmt Fahrt auf. Ich hasse Dramen. Bei uns im Studio ist das auch so, lauter Schwanzträger, die sich aufführen. Das macht mich rasend.«
    »Was ist das da? Krebs?«
    »Darmkrebs. Wie Dad ihn hat.« Leah entfernte sich von dem Glas und setzte sich auf eine kleine Bank mitten im Saal. Natalie setzte sich neben sie und drückte ihr die Hand.
    »Was wirst du jetzt tun?«, fragte Leah Hanwell.
    »Nichts«, sagte Natalie Blake.
120. Vermittlung
    Einige Wochen gingen ins Land. Dann stellte Doktor Singh Natalie Blake im Pupil’s Room. Offensichtlich war sie als eine Art Abgesandte unterwegs. Oben – sie nannte keine Namen – sei man »besorgt«. Warum Natalie denn aufgehört habe, am Gesellschaftsleben der Gruppe teilzunehmen? Ob sie sich isoliert fühle? Ob es ihr helfen würde, mit jemandem zu sprechen, der das alles »schon hinter sich habe«? Natalie nahm das Kärtchen. Sie musste wohl die Augen verdreht haben, ohne es zu merken.

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