London NW: Roman (German Edition)
Doktor Singh schaute gekränkt und fuhr mit dem Finger die Zeile voller Buchstaben entlang: QC , OBE , PHD . »Theodora Lewis-Lane war eine Wegbereiterin« – das war als Tadel gemeint. »Ohne sie gäbe es uns nicht.«
121. Vorbilder
Eine schicke Patisserie in der Gray’s Inn Road. Natalie kam eine Viertelstunde zu spät, Theodora hingegen zwanzig Minuten, wie zum Beweis, dass keine von ihnen die jamaikanische Zeitrechnung ganz abgelegt hatte. Sie war beeindruckt von Theodoras glatter Fernsehmoderatorinnen-Frisur (sie selbst hatte, auf Franks Bitten hin, erst kürzlich aufgehört, ihre Haare zu glätten) und den dezent glamourösen Variationen, die sie an der inoffiziellen Uniform der weiblichen Anwaltschaft vorgenommen hatte: die goldene Satinbluse unter der Kostümjacke, die Strassverzierungen an den schwarzen Gerichtspumps. Sie war mindestens fünfzig, aber mit der inselüblichen Gabe gesegnet, zwanzig Jahre jünger auszusehen. Erstaunlicherweise – angesichts ihres Furcht einflößenden Rufs – war sie nur knapp einssechzig groß. Als Natalie von ihrem Stuhl glitt, um Theodora die Hand zu geben, brachte sie das kurz aus der Fassung. Doch im Sitzen gewann sie ihre Würde zurück. Mit einem Akzent, wie er in freier Wildbahn nirgends vorkommt – einer Art Kreuzung aus der Queen und der telefonischen Zeitansage –, bestellte sie eine bemerkenswerte Menge Gebäck, um dann ohne Aufforderung die Geschichte ihrer schauerromantischen Kindheit in Süd-London und ihres höchst unwahrscheinlichen beruflichen Erfolgs zu erzählen. Deutlich vor Ende der Erzählung nahm Natalie Blake einen übertrieben kleinen Bissen von einem Croissant und murmelte: »Ich glaube, ich möchte einfach nur, dass meine Leistungen nach ihrem eigentlichen Wert beurteilt werden ...«
Als sie wieder von ihrem Teller aufblickte, hatte Theodora die kleinen Hände im Schoß gefaltet.
»Sie wollen eigentlich gar nicht mit mir reden, was, Miss Blake?«
»Wie bitte?«
»Ich will Ihnen mal was sagen«, fuhr sie in einem schneidenden Ton fort, der ihr festgefrorenes Lächeln Lügen strafte, »ich bin die jüngste Kronanwältin meiner Generation. Und was immer Sie glauben wollen, das ist keineswegs Zufall. Man lernt in diesem Beruf sehr schnell, dass das Glück mit den Tapferen ist – aber auch mit den Pragmatikern. Ich nehme an, Sie wollen sich irgendwie auf Menschenrechte spezialisieren. Polizeigewalt? Denken Sie in die Richtung?«
»Das weiß ich noch nicht.« Natalie versuchte, ruppig zu klingen. Sie war den Tränen schon sehr nahe.
»Ich habe das nie in Erwägung gezogen. Zu meiner Zeit wurde man automatisch mit seinen Mandanten in einen Topf geworfen, wenn man in die Richtung ging. Ich habe schon früh den Ratschlag bekommen: ›Arbeiten Sie bloß nicht im Getto.‹ Das kam damals von Richter Whaley. Er wusste es besser als jeder andere. Was die erste Generation tut, will die zweite nicht mehr machen. Die dritte kann tun und lassen, was sie will. Sie haben also unglaubliches Glück. Wenn dieses Glück bloß mit etwas bescheidener Höflichkeit einherginge! Ich glaube, hier gibt es auch Wein. Möchten Sie einen Schluck Wein?«
»Ich wollte nicht unhöflich sein. Entschuldigen Sie bitte.«
»Das ist auch ein guter Hinweis für die Arbeit vor Gericht: Glauben Sie nie, dass man Ihnen Ihre Geringschätzung nicht ansieht. Mit den Jahren werden Sie merken, dass der Spiegel des Lebens in beide Richtungen geht.«
»Aber ich bin doch gar nicht geringschätzig ...«
»Nur die Ruhe, sista. Trinken wir einen Wein. Ich war in Ihrem Alter auch nicht anders. Ich wollte es nie hören.«
122. Theodoras Ratschlag
»Als ich die ersten paar Male vor Gericht stand, wurde ich ständig von der Richterbank gemaßregelt. Ich verlor alle meine Verhandlungen und begriff einfach nicht, warum. Dann ist mir Folgendes klar geworden: Wenn so ein glatthaariger Jüngling aus Surrey vor diesen Richtern steht, gelten all seine leidenschaftlichen Plädoyers als reine juristische Wortgewalt. Der Richter und er erkennen einander. Sie verstehen sich gegenseitig. Wahrscheinlich waren sie sogar auf demselben Internat. Aber Whaleys Leidenschaft oder meine oder Ihre, die wird als ›Aggression‹ gedeutet. Dem Richter gegenüber. Das ist sein Haus, und Sie sind der Eindringling. Und ich kann Ihnen sagen, bei einer Frau ist es noch viel schlimmer: ›aggressiv und hysterisch‹. Die erste Lektion lautet also: Drehen Sie’s runter. Eine Stufe. Oder auch zwei. Denn das ist nicht
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