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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
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etliche Jahre nach Natalie Blake. Das gab ihr Anlass, sich zu fragen, ob es mit der Schule wohl bergab ging – noch weiter bergab. Mittags ging sie zu dem karibischen Grill gegenüber von McDonald’s, setzte sich dort auf einen Barhocker und gab sich alle Mühe, keine Fettflecken auf ihrem Kostüm zu hinterlassen. Fleischpastete, Fischklößchen und eine Dose Ginger Ale. Sie nahm sich immer vor, diese Speisenfolge zu variieren, doch an der Theke verließ sie jede Abenteuerlust. Es gab den lang gehegten Plan, mit Marcia und Irene, Marcias Schwester, die ganz in der Nähe wohnte, mittagessen zu gehen, doch dieser Traum von einem Treffen mit zwei Stunden Freizeit und ohne irgendwelche Schriftsätze, die gelesen werden mussten, schien nicht wahr werden zu wollen, und bald begriff Natalie Blake, dass er wohl auch niemals wahr werden würde. Häufig traf sie ihre Cousine Tonya auf der Harlesden High Street. Bei diesen Anlässen befiel sie jedes Mal – trotz ihres neuen Status als große Anwältin – das alte Gefühl der Unsicherheit und Lächerlichkeit, das Tonya schon in ihr ausgelöst hatte, als sie noch Kinder waren. An diesem Nachmittag trug Tonya eine Trainingshose mit der Aufschrift HONEY auf dem Hintern und eine eng anliegende Jeansweste mit einem gelben BH darunter. Ihr Pony war lila gefärbt, die Kreolen an den Ohren reichten bis auf die Schultern herab. Ihre Plateauschuhe waren rot und zehn Zentimeter hoch. Trotz Kleinkind und Säugling, die sie im Doppel-Buggy schob, hatte Tonya sich die Proportionen einer Superheldin aus dem Comic bewahrt. Natalie ihrerseits war bedauerlich margar, wie man auf Jamaika sagt. Weiße übersetzen das mit »schlank« oder »sportlich gebaut« und betrachten es gemeinhin als positive Wertung. Für Natalie aber lief es letztlich auf »kurvenloses Neutrum« hinaus. Tonyas Haut wirkte niemals aschgrau, sondern immer weich und prall, und sie litt auch nicht unter der grellrosa Akne, die Natalies Stirn regelmäßig heimsuchte, so auch heute. Wo Natalies Zähne klein und grau waren, waren die von Tonya riesig, weiß und ebenmäßig und präsentierten sich jetzt in einem gewaltigen Lächeln. Als Tonya näher kam, war Natalie plötzlich überzeugt, ihr, Natalies, Mund müsse noch mit Frittierfett verschmiert sein. Aber vielleicht war es ja auch nur weibliche Taktik, sämtliche Sorgen aufs Körperliche zu verlagern und damit eine viel tiefgreifendere und unauflösbarere Differenz zu vereinfachen, denn Natalie glaubte, Tonya habe eine Begabung für das Leben, die Natalie selbst anscheinend nicht besaß.
    »Diese Kinder sind so hübsch, das ist schon fast ein Verbrechen.«
    »Danke!«
    »Und sieh dir André an – der weiß das auch ganz genau.«
    »Das war sein Vater. Von dem hat er die Kette.«
    »Und er jetzt so: Ich bin der dreijährige Checker.«
    »Genau das sag ich auch immer! Ich schwör’s.«
    Unter dem Lächeln sah Natalie, dass ihre Cousine von dem Gespräch enttäuscht war, weil sie wie immer einen tieferen »Zugang« zu Natalie suchte, die genau diese Intimität vermeiden wollte und ihrer Cousine gegenüber deshalb eine oberflächlich-freundliche Fassade aufrecht- und sie damit auf Abstand hielt. Natalie setzte André wieder ab und nahm stattdessen Sasha auf den Arm. Weder das eine noch das andere Kind erschien ihr je real, egal, wie oft sie sein Gewicht auf den Armen spürte. Wie konnte Tonya die Mutter dieser Kinder sein? Wie konnte Tonya sechsundzwanzig sein? Seit wann war Tonya nicht mehr zwölf? Wann würde sie selbst endlich erwachsen werden?
    »Ich bin jetzt ja wieder in Stonebridge, bei Mum. Das mit Elton und mir ist vorbei, Schluss, aus. Ich hab keine Lust mehr, meine Zeit zu verschwenden. Aber sonst ist alles super. Ich bin jetzt wieder auf der Schule, drüben in Dollis Hill. College of North West London. Tourismus und Hotelgewerbe. Lernen, lernen, lernen. Ganz schön anstrengend, aber es macht mir solchen Spaß. Du inspirierst mich!«
    Tonya legte die Hand auf die Schulter von Natalies hässlicher dunkelblauer Kostümjacke. War das Mitleid in den Augen ihrer Cousine? Natalie Blake existierte doch gar nicht.
    »Wie geht’s deiner Freundin? Dieser Netten. Mit den roten Haaren.«
    »Leah. Gut geht’s ihr. Sie ist jetzt verheiratet. Arbeitet bei der Bezirksverwaltung.«
    »Ach. Wie schön. Hat sie Kinder?«
    »Nein. Noch nicht.«
    »Ihr wartet alle ganz schön lang, was?«
    Tonyas Hand wanderte von der Schulter ihrer Cousine zu deren Kopf.
    »Was geht denn da oben ab,

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