London NW: Roman (German Edition)
Übergangsstuhl, der vor sechs Jahren aus dem Pausenraum entliehen wurde, und förmlich ertrinkt in Einfühlungsvermögen. Ihr rechter Fuß ist eingeschlafen. Der Computerbildschirm hängt. Die IT -Abteilung lässt sich nicht blicken. Keine Klimaanlage. Adina hört und hört nicht auf, misshandelt die Sprache, wie das ihre Art ist.
– Also war das alles eine Frage der Kommunikation? Blockierte Kanäle zwischen den beteiligten Parteien. Wer sollte sich also jetzt mal stärker bewusst machen, was für Auswirkungen sein Verhalten auf andere hat?
Auch das wird vorübergehen. Sechzehn Uhr fünfundvierzig. Zick-zack. Tick-tack. Manchmal greift die Verbitterung nach Leah. Zieht sie runter, hält sie fest. Wozu war das alles gut? Drei Jahre nutzloses Studium. Überschuldet, überfordert. Philosophie ist es nur geworden, weil sie Angst vor dem Tod hatte und dachte, das könnte helfen, und weil sie nicht rechnen oder zeichnen konnte, sich nicht listenweise Fakten merken und keine andere Sprache sprechen konnte als die eigene. Im Prospekt der Universität der kursiv gedruckte Satz über einer Abbildung des Firth of Forth: Philosophie heißt sterben lernen . Aber Philosophie hieß, den Schwafeleien arroganter Typen zuzuhören, sich mehr zu langweilen als je zuvor im Leben, mehr als man es je für möglich gehalten hat. Philosophie hieß, sich zu wünschen, man wäre anderswo, ganz gleich wo, irgendwo anders im Multiversum, ein Konzept im Übrigen, das man nie richtig begreifen wird. Am Ende hat sich nur ein Gedanke zuverlässig eingeprägt: die Zeit als relative Erfahrung, anders für den Jogger, den Liebenden, den Gequälten, den Müßiggänger. Wie jetzt, wo sich jede Minute zur Stunde zu dehnen scheint. Ansonsten nutzlos. Nicht abbezahlte, immer weiter wachsende Schulden. Dazu ein Gefühl von Groll: Welchen Sinn hatte es, sich auf ein Leben vorzubereiten, das nie für einen bestimmt war? Jahrelang so weg von allem, dass die Realität abhandenkam. Edinburghs Penetranz: Bergbesteigung und verborgene Gässchen, Burgschatten und Whisky für fünfzig Pence, Walter-Scott-Plaketten und die Suche nach dem richtigen Studienkredit. Aus ihrem Mund: Sokrates klang wie »gratis«, falsch betont, Antigone wie ein Putzmittel. Auf ewig unvergessen: der Blödmann, der in dieser ersten Seminarsitzung so hämisch gekichert hat. ICH BIN JA SO EINFÜHLSAM , schreibt Leah und verziert die Worte hingebungsvoll. Große Flammenbögen, lange, spitz zulaufende Schatten.
– Fragen? Probleme?
Ein Kuli zerbricht geräuschvoll. Plastikscherben, blaue Zunge. Adina George schaut böse zu ihr hin, aber Leah trägt keine Verantwortung für die Albaner. Sie hat zwar den Mund voller Kulitinte, aber für die Albaner trägt sie keine Verantwortung und auch nicht für die Veruntreuung von Geldern, die eigentlich für ein Frauenhaus in Hackney bestimmt waren. Das fiel in Claire Morgans Zuständigkeitsbereich. Auch wenn Leah eine blaue Zunge hat und einen ach so tollen Abschluss und einen scharfen Ehemann und nichts für ungut, aber für Frauen aus unserer Gemeinschaft, also aus der afrikanisch-karibischen Gemeinschaft, du weißt schon, nichts für ungut, aber wenn wir einen von uns mit einer von euch sehen, dann ist das echt ein Thema. Das muss dir einfach klar sein, das ist echt ein Thema. Nichts für ungut. (Wochenendworkshop Team-Building in Brighton, Hotelbar, 2004.) Was für ein Thema genau, wurde nicht näher ausgeführt. Sweet Love sang Anita Baker, und Adina riss einen Stuhl um bei dem Versuch, die Tanzfläche zu stürmen. Blockierter Kanal.
Leah spuckt sich Plastiksplitter in die Hand. Keine Fragen oder Probleme. Adina seufzt und geht. Der Eifer, mit dem jetzt Akten zugeklappt und Taschen gepackt werden, unterscheidet sich in nichts von dem, als sie alle sechs Jahre alt waren und die Schulklingel ertönte. Vielleicht war das ja das wahre Leben? Leah stellt beide Füße fest auf den Boden und lehnt sich im Stuhl zurück. Drückt sich ab und rollt rüber zum Aktenschrank, und das ist das erfreulichste Ereignis des ganzen Tages. Rums.
– Ey! Scheiße noch mal, Leah! Pass doch auf!
Diese gewaltige Wölbung. Leah hat die Nase an Toris Nabel und registriert, wie sich das Verborgene darin nach außen stülpt, eine körperliche Grenze markiert. Hier kommt nicht weiter, wer Mensch bleiben will.
– Pass halt auf. Kommst du noch mit? Abschiedsdrinks. Hast du die Mail nicht gekriegt?
Versteckt in einem Winkel des Internets, zusammen mit den Kontoauszügen,
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