London NW: Roman (German Edition)
können. Außer vielleicht, dass er haargenau aussah wie ein Felix.
Sie hob den Kopf von der Zeitung. Sie rief. Nichts. Sie ging zu den Fischen, den Eidechsen, den Hunden und den Katzen. Nirgends. Sie beruhigte sich damit, dass sie nicht zur Hysterie neigte. Nur ein klein wenig schneller ging sie die Runde, die sie gerade gedreht hatte, noch einmal zurück und rief in ganz sachlichem Ton ihre Namen. Nichts, nirgends. Sie ließ den Kinderwagen stehen und ging rasch zur Information. Sie stellte zwei Menschen eine ganz schlichte Frage, die diese mit einem enervierenden Mangel an Dringlichkeit beantworteten. Sie ging wieder zurück zu den Fischen und zu den Eidechsen, rief jetzt lauter. Sie wusste, dass ihre Kinder weder entführt noch ermordet worden waren und sich vermutlich keine fünfzehn Meter von ihrem jetzigen Standort aufhielten, aber obwohl sie diese vollkommen logische Abfolge von Aussagen immer wieder durchging, konnte sie doch nichts gegen den flächendeckenden Erdrutsch ausrichten, der jetzt in ihr stattfand. Sie sah in den Abgrund, der diejenigen, die unerträglichen Schmerz erfahren haben, von jenen trennt, denen diese Erfahrung fehlt. Sofort brach ihr am ganzen Körper der Schweiß aus. Ein Mann mit Schürze kam zu ihr und sagte ihr, sie solle sich beruhigen. Sie drängte an ihm vorbei und rannte hinaus auf die Straße. Und in diesen Abgrund hätte sie um ein Haar Frank gestürzt, ihre Kinder, ihre Mutter, Leah. Alle, die sie jemals geliebt hatten.
Sie machte einen Schritt nach links, hielt inne: Aus irgendeinem Grund stieß die instinktiv eingeschlagene Richtung auf Ablehnung. Sie änderte den Kurs und lief ins benachbarte Warenhaus, eine weitere Zugangsrampe hinab in einen weiteren hallenartigen Laden, wo gesichtslose Schaufensterpuppen im Hidschab standen und große Bündel schwarzen Seidenstoffs zu zahllosen ordentlichen Stapeln gefaltet auf langen Regalen lagen. Planlos rannte sie zwischen Regalen mit Stoffen und Tüchern und bestickten Gewändern herum und dann wieder hinaus auf die Straße und die Rampe der Tierhandlung hinunter, wo sie sie sofort sah, ganz hinten in der Ecke, vor den Kaninchenställen auf dem Boden hockend.
Sie fiel auf die Knie und griff mit beiden Händen nach ihnen. Sie küsste ihnen das Gesicht ab, was sie kommentarlos über sich ergehen ließen.
»Kann man Kaninchen essen?«, fragte Naomi.
»Was?«
»Hast du schon mal ein Kaninchen gegessen?«
»Nein ... Ich meine, es gibt schon Leute, die das tun. Ich nicht. Wartet – mein Handy klingelt. Ihr könnt doch nicht einfach so verschwinden. Ich bin fast durchgedreht.«
»Und warum isst du keine Kaninchen?«
»Ich weiß es nicht, Schätzchen, ich hatte einfach nie Lust darauf. Ich muss da kurz rangehen, ja? Hallo?«
»Du isst doch auch Schweine und Hühner und Lämmer. Und Fische.«
»Da hast du recht – das ist eigentlich unlogisch. Hallo? Wer ist denn da?«
Michel. Sie hörte gleich, dass er ganz außer sich war. Sie richtete sich auf, ging ein paar Schritte von den Kindern weg und hielt dabei einen Finger hoch, um ihnen zu signalisieren, sich nicht vom Fleck zu rühren.
»Sie liegt draußen in der Sonne«, sagte Michel. »Sie redet nicht. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Warum hasst sie mich so?«
Natalie versuchte, ihn zu beruhigen. Sie übernahm Franks Rolle: den chronologischen Ablauf etablieren. Doch es ergab alles keinen Sinn. Irgendwas mit einer Drogerie. Und Fotos.
»Ich verstehe überhaupt nichts«, sagte Natalie Blake leicht gereizt.
»Da hab ich sie gefragt: Was ist denn? Was ist wirklich? Und sie sagt: ›Schau in die Schachtel in der Schublade.‹ Das habe ich auch gemacht.«
»Und was war da?« Natalie hatte das Gefühl, als würde auch noch der letzte Tropfen unnötiger Spannung aus dieser Geschichte herausgepresst. Sie wollte unbedingt zurück zu ihren Kindern.
»Die Pille. Seit einem Jahr versuchen wir es! Ich weiß nicht, ob sie sie die ganze Zeit genommen hat. Aber dein Name steht drauf. Hast du sie ihr gegeben, Natalie? Warum tust du mir das an? Scheiße, Mann!«
Natalies Kinder kamen jetzt zu ihr, griffen sich jedes ein Bein und zogen, während Natalie sich gegen den Vorwurf der Mittäterschaft verteidigte. Normalerweise wäre ihre ganze Energie in diese Verteidigung geflossen – dazu war sie schließlich ausgebildet –, doch während sie noch sprach, wanderten ihre Gedanken hinaus auf eine Art freies Feld, wo sie beinahe glaubte, den Schmerz ihrer Freundin annähernd
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