London
seinem Herrenhaus warm, während der einfache Bauer auf seinem Feld erfriert? Nehmt Euren Mut zusammen! Vernichtet sie!« Und auf das einfache biblische Bild zurückgreifend, rief er laut den Vers, für den seine Predigten so berühmt waren: »Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?«
Nachdem er seine Ansprache mit einem lauten Amen beschlossen hatte, stieß die Menge ein mächtiges Brüllen aus. Carpenter wandte sich mit leuchtenden Augen an Ducket und sagte: »Habe ich dir nicht gesagt, daß alles zum besten steht?«
Ducket hatte gehofft, Carpenter zur Heimkehr bewegen zu können, doch der Handwerker wollte nichts davon wissen. »Wir müssen auf den König warten«, erklärte er. Also verbrachte auch Ducket die Nacht in dem großen Lager unter freiem Himmel. Bei seinen Gesprächen mit verschiedenen Leuten erfuhr er eine ganze Menge. Viele waren wie Carpenter völlig arglos. Sie waren hier, weil sie dem König helfen und die Welt wieder einrenken wollten. Man müßte eben nur das Land von sämtlicher Autorität befreien, wurde ihm immer wieder versichert, dann wären alle Menschen frei.
Ducket kam dieser Gedanke sonderbar vor. In London bedeutete Freiheit die alten Privilegien der Stadt, die Stadtmauern, die die Londoner vor den Soldaten des Königs oder vor fremden Händlern und Handwerkern schützten. Sie bedeutete, daß ein Lehrling ein wandernder Geselle und vielleicht auch einmal ein Meister werden konnte. Natürlich schimpften die Armen manchmal auf die reichen Aldermen, vor allem, wenn sie sich vor den Steuern drückten. Aber was sollte aus Londons Freiheit ohne Autorität und Ordnung werden?
Doch offenbar war die Ordnung für diese Menschen vom Land keine Notwendigkeit, wie sie es für die Londoner war, sondern ein Zwang. Sie träumten davon, Freibauern zu sein, wie die Angelsachsen es vor langer Zeit waren. Wenn man sie fragte, woher sie kamen, bezeichneten fast alle diese Bauern sich stolz als Männer aus Kent, als seien sie ein Stamm. Und auf der anderen Flußseite sahen die Männer aus Essex sich wahrscheinlich ebenso. Angeln, Jüten, die verschiedenen Gruppen von Sachsen, Wikingern, Dänen und Kelten – England war wie jedes Land in Europa noch immer eine Zusammenfügung aus alten Stammesgebieten. An diesem Abend begann Ducket zu verstehen, was jeder weise Herrscher in England wußte, daß nämlich London eine Gemeinschaft war, daß aber die Grafschaften in unruhigen Zeiten immer in eine ältere Ordnung zurückfallen würden.
Nun mochten die Männer aus Kent dem König vielleicht wirklich kein Leid zufügen wollen, aber Ducket war sich nicht sicher, welche Absichten sie sonst noch hegten. Als er einen der Burschen fragte, wie er denn die Predigt gefunden habe, erwiderte der Mann: »Ball sollte der Erzbischof von Canterbury sein, und er wird es auch werden, sobald wir den jetzigen getötet haben.«
Der Sonnenaufgang versprach einen weiteren schönen Tag, und schon bald setzte sich die ganze Truppe auf Befehl Tylers in Bewegung, und Ducket bemerkte, daß sich auf der gegenüberliegenden Flußseite die Männer aus Essex sammelten.
Unten am Fluß warteten sie zwei Stunden. Ducket wollte sich eben auf seinen Heimweg machen, da sah er eine große, prächtige Barkasse in Begleitung von vier weiteren den Fluß herabgleiten. Auf der Barkasse standen viele reichgekleidete Männer, und ganz vorne, so daß alle ihn sehen konnten, stand der junge König. Richard II. war vierzehn. Vor wenigen Monaten hatte er seine Volljährigkeit erreicht und die Zügel der Regierung in die eigenen Hände genommen. Sein Rat hatte ihn angefleht, sich fernzuhalten, aber der Sohn des Schwarzen Prinzen war mutig.
Ein Aufschrei aus Tausenden von Kehlen begrüßte ihn. Die Barkasse wurde etwas vom Ufer entfernt angehalten. Der junge König hob einen Arm, die Menge verstummte. Mit klarer Stimme rief er: »Sirs, ich bin zu Euch gekommen. Was habt Ihr mir zu sagen?«
Als Antwort erschallte ein weiteres Gebrüll, aus dem Ducket einzelne Sätze verstand: »Lang lebe König Richard!«, »Heil dem König!« Doch auch drohendere Sätze waren zu hören: »Gebt uns den Kopf des Erzbischofs!« und: »Wo stecken die Verräter?« Ducket sah, wie Tyler ein paar Männern befahl, zur Königsbarkasse hinauszurudern und eine Bittschrift zu überreichen. Er sah, wie der König sie las. »Tyler will die Köpfe aller Verräter haben«, erklärte jemand in seiner Nähe seinem Nebenmann. Ducket sah, wie der König den Kopf
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