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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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beobachtete: Was empfand sie Silversleeves gegenüber? Natürlich bewunderte sie ihn. Er war fromm und freundlich, und offensichtlich betete er sie an. Wenn nur nicht eine innere Stimme sie jeden Tag ein wenig lauter bedrängt hätte aufzuhören! Aufzuhören, bevor es zu spät war.
    Amy Fleming war ihre Entscheidung leichter gefallen. Nach dem Tod des Vaters war es nur natürlich, daß die Hochzeit verschoben wurde. Carpenter hatte den Herbst vorgeschlagen, aber Amy entschied sich insgeheim dagegen. Es waren nicht die Worte ihrer Mutter, sondern der traurige Abschiedsbrief ihres Vaters, der sie umgestimmt hatte, sein Wunsch, daß Ducket sein Geschäft übernehmen, seine Botschaft, daß sie ihm vertrauen solle.
    Sie wußte, daß sie Carpenter nicht liebte, aber er war ihr immer wie ein sicherer Hafen vorgekommen, während Ducket ihr in seiner Sorglosigkeit eher riskant erschienen war. Die Ereignisse des letzten Jahres hatten ihr jedoch zu denken gegeben. Carpenter am Savoy-Palast; Carpenter mit seinen Lollardentraktaten. Seine Obsessionen konnten ihm großen Ärger einbringen. Sogar ihr stiller Vater hatte eine Menge Arger gehabt. Und wer hatte die beiden gerettet oder zumindest zu retten versucht? Ducket. Ducket war der Starke, der Tapfere. Sie ging davon aus, daß er sie heiraten würde. Schließlich hatte er alles andere verloren.
    Eines Morgens kam Tiffany Bull ins »George«. In der Annahme, daß sie Ducket sprechen wollte, ging Amy zu ihr und sagte ihr, daß er sich um den Stand auf dem Cheap kümmerte. Doch zu ihrer Überraschung schüttelte Tiffany den Kopf.
    »Eigentlich wollte ich mit dir reden«, sagte sie. »Können wir uns irgendwo unter vier Augen unterhalten?«
    Obwohl sie Tiffany vom Sehen kannte, hatte Amy noch nie mit ihr gesprochen, und nun musterte sie das reiche Mädchen neugierig. Sie bewunderte ihr feines Seidenkleid, bemerkte, wie sittsam sie sich hinsetzte. Um so überraschter war sie, als sie das Anliegen des Mädchens erfahr. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte Tiffany. »Weißt du«, fügte sie freimütig hinzu, »ich habe sonst niemanden, an den ich mich wenden könnte.«
    Tiffany erzählte ihre Geschichte in knappen Worten. »Du siehst also«, meinte sie abschließend, »daß Ducket gegen den Mann, den ich heiraten soll, schwere Vorwürfe erhoben hat. Ich kann sie kaum glauben, und niemand sonst würde sie glauben. Doch wenn auch nur ein Teil davon stimmt, dann… In zwei Wochen wird Silversleeves mein Mann sein. Du hast Ducket jahrelang täglich gesehen. Meinst du, daß diese Sachen stimmen könnten?«
    Sonderbar, dachte Amy. Eigentlich hatte sie angenommen, daß sie persönlich in Schwierigkeiten steckte, doch das Dilemma dieses reichen Mädchens war wahrlich schwerwiegender.
    »Ich kann dir gerne alles sagen, was ich in dieser Angelegenheit weiß«, meinte sie schließlich.
    Tiffany hörte aufmerksam zu, während Amy die Geschichte des Lehrlings in kurzen Zügen erzählte. Sie erklärte, wie sie ihn angefleht hatte, Carpenter bei dem Aufstand zu finden, und wie er dem Handwerker am Savoy-Palast das Leben gerettet hatte. Dann sprach sie von den merkwürdigen Umständen um den Tod ihres Vaters und was er noch zu Ducket zu sagen gehabt hatte.
    An dieser Stelle wurde Tiffany hellhörig. »Du sagst, daß dein Vater Geld genommen und es verloren hat, aber er hat nicht erklärt, wie dies gekommen ist. Und Ducket weiß es, will es aber nicht sagen«, warf sie ein. »Er hat mich gewarnt, daß Silversleeves ein Nekromant sei, der die Leute betrüge. Und als dein Vater starb, meinte er, er könne es nicht mehr beweisen.«
    Die beiden Mädchen blickten sich an. »Silversleeves«, sagten beide wie aus einem Munde.
    »Das wär's dann wohl«, sagte Tiffany. »Ich werde ihn nicht heiraten.«
    »Aber wir haben keine Beweise«, meinte Amy. »Er wird alles leugnen.«
    »Zu schade.« Plötzlich lachte Tiffany. »Egal. Ich habe ihn ohnehin nicht geliebt.«
    Amy beugte sich vor. »Weißt du was? Ich werde meinen zukünftigen Ehemann auch fallenlassen«, gestand sie.
    »Ach ja? Hast du denn schon einen anderen im Auge?«
    Amy lächelte breit. »Klar, Ducket natürlich.«
    An diesem Abend trat Tiffany vor ihren Vater und erklärte ihm, was sie vorhatte.
    »Aber es ist doch schon alles geregelt«, sagte er fassungslos. »Du kannst doch nicht jetzt einen Rückzieher machen.«
    »Ich muß es, Vater«, sagte sie.
    »Und was hat dich dazu bewogen?«
    »Ich liebe ihn nicht, Vater.«
    Eine Weile sagte Bull nichts,

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