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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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raffte sich zur Arbeit auf, hatte aber keine Freude mehr daran. Er betete nur der Form halber mit seiner Familie, machte aber keinen großen Versuch, ein gottesfürchtiges Leben zu führen. Hätte es nicht so viel zu tun gegeben, wäre er vielleicht noch tiefer in Melancholie versunken. Aber in den Jahren nach der Feuersbrunst mußten Häuser zu Tausenden erbaut werden, und als Zimmerergeselle, der für mehrere Herren arbeitete, war er viel beschäftigt.
    Eine zufällige Begegnung mit Meredith hatte sein Leben verändert. Beide waren immer auf freundschaftlichem Fuß gestanden. Meredith hatte O Be Joyful bereits mehrere kleine Aufträge im Kirchspiel von St. Bride's gesichert. Als er den Handwerker eines Morgens trübsinnig den Ludgate Hill herunterkommen sah, kam ihm plötzlich ein Gedanke, wie er ihn aufheitern könnte. »Mein Freund Wren hat vor kurzem einen großartigen Holzschnitzer angestellt, der Gehilfen braucht. Wollt Ihr nicht, daß ich Euch bei ihm vorstelle?« So hatte Carpenter noch am selben Nachmittag Mr. Grinling Gibbons kennengelernt.
    Gibbons war Handwerker wie er. Carpenter hatte schon vor einigen Monaten von seinem Ruf gehört, als er dem König eine Schnitzarbeit geschenkt hatte, und nun sah er zum ersten Mal Gibbons wundervolle Arbeit. Die menschliche Gestalt, Tiere, Bäume, Früchte, Blumen – es schien nichts zu geben, das er nicht schnitzen konnte. Selbst ein einfacher Apfel hatte eine so persönliche Note, eine solche Anmut, daß man ihn berühren wollte, weil man ihn für echt hielt. »Er ist Bildhauer, nicht einfach nur Schnitzer«, flüsterte O Be Joyful Meredith zu, als sie sich in der Werkstatt des Meisters umsahen.
    »Keiner in London kommt ihm gleich«, stimmte Meredith zu. »Mein Freund Wren erteilt ihm Aufträge für seine neuen Kirchen. Wollt Ihr mit ihm arbeiten?«
    Was konnte O Be Joyful antworten? Martha und Gideon mochten nun voll Mitleid oder Abscheu auf ihn herunterblicken, aber in einer der Kirchen des Königs zu arbeiten… Er konnte Marthas Stimme hören, die ihn von oben her schalt: »Das sind Götzenbilder – Götzendienst. Eine Sünde.« Er wußte, daß es die Wahrheit war. Es war eine Liebe zu weltlicher Schönheit, völlig entgegengesetzt zu allem, was er als puritanisch und heilig kannte. Doch er wußte, daß er in seinem ganzen Leben keinen solchen Meister mehr finden würde.
    »Ich würde gerne für Grinling Gibbons arbeiten«, erwiderte er.
    Der Wiederaufbau von St. Paul's war wegen der gewaltigen Kosten lange hinausgeschoben worden. Als Lösung des Problems verkündete die Obrigkeit eine Kohlesteuer. Jedesmal, wenn die Schiffe aus Newcastle mit der Kohle für die Wohnhäuser in London anlegten, wurde die gelöschte Fracht besteuert. Von jeden drei Shilling Steuer gingen Fourpence halfpenny an St. Paul's; Wrens große Kathedrale wurde also mit Kohle finanziert.
    Mittlerweile hatte dieser Fonds eine gewisse Höhe erreicht, und man hatte einen neuen Plan angefordert. Gibbons zeigte O Be Joyful das grobe Holzmodell, das man von Wrens ursprünglichem Plan gemacht hatte – ein einfaches Gebäude mit Galerien, das einem protestantischen Gemeindehaus ähnelte. Aber nun wollte der König anscheinend etwas Prachtvolleres. »Ein neues Modell der Kirche wird angefertigt«, erklärte Gibbons, »und Ihr sollt dabei helfen.« Als O Be Joyful am nächsten Morgen in die Werkstatt kam, arbeitete eine Gruppe von Handwerkern bereits an einem riesigen Modell aus Eiche, einem besonders schwierigen Holz zum Schnitzen. Jedes Detail innen und außen sollte exakt herausgearbeitet werden. »Lieber Gott«, murmelte er, »es wird leichter sein, den Bau selbst zu errichten.«
    Der Umriß des Gebäudes war klar: ein klassischer Aufbau in der Form eines griechischen Kreuzes mit großen romanischen Fenstern und Säulengängen mit Ziergiebeln. Die Zeichnungen für das Dach waren noch nicht geliefert. Die Säulen und Stützpfeiler der großen Basilika waren alle korinthisch, und für diese Arbeit wurde O Be Joyful eingeteilt. Über einen Monat lang arbeitete er jeden Tag daran, während die Mauern nach oben wuchsen. Wren sah häufig herein, sagte ein paar Worte und stürzte wieder hinaus. Gegen seinen Willen begann O Be Joyful stolz auf seine Aufgabe zu sein.
    Eines Nachmittags kam Meredith vorbei. »Da ist etwas, was Ihr sehen solltet«, sagte er zu O Be Joyful. Ein paar Minuten später waren beide Männer am Standort der alten St.-Paul'sKathedrale, wo Meredith ihm ein Loch im Boden zeigte. Um

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