Long Dark Night
fünfzigtausend«, korrigierte sich Tony.
»Hätten sogar hunderttausend drin sein können«, sagte Tony, was Georgie gar nicht gefiel, weil er damit der Wahrheit ein wenig zu nah kam.
Priscilla sah wieder auf ihre Uhr.
»Suchen wir dieses Arschloch«, sagte sie und stand auf. Sie ließ für die sechs oder sieben anderen Gäste in der Bar ein betörendes Lächeln aufblitzen und schritt elegant zur Lobby. Die Jungs folgten ihr.
Sie fanden Clotilde Prouteau um ein Uhr morgens an diesem Montag in einem kleinen französischen Bistro. Sie saß an der Bar und rauchte. Niemand durchschaute so ganz die städtische Verordnung, die das Rauchen in der Öffentlichkeit regelte, doch im allgemeinen galt, daß man in einem Restaurant mit weniger als fünfunddreißig Sitzplätzen rauchen durfte. Auf Le Canard Bleu traf das eindeutig zu. Überdies durfte auch in größeren Restaurants an jedem Bartresen geraucht werden, hinter dem ein Barkeeper bediente. Im Augenblick war die Bar nicht besetzt, doch Clotilde befand sich aufgrund der Größe des Restaurants auf sicherem Terrain. Außerdem waren sie nicht hier, um sie wegen Rauchens in der Öffentlichkeit hopszunehmen. Und auch nicht wegen des Praktizierens von Voodoo.
Sie war eine zweiundfünfzigjährige Haitianerin mit einem starken französischen Akzent und einem Teint von der Farbe einer Eiche. Sie saß mit einer roten Zigarettenspitze in der Hand da, war aber immerhin so höflich, den Rauch von den Detectives wegzublasen. Ihre Augen waren von einem bleichen Grünlichgrau und wurden von blauem Eyeliner und dick aufgetragener Wimperntusche betont. Ihr wahrhaft üppiger Mund war mit einem geradezu aufdringlich hellroten Lippenstift bemalt. Sie trug einen gemusterten Seidenkaftan, der flüssig über üppige Hüften, Hinterbacken und Brüste fiel. Emaillierte rote Ohrringe baumelten an ihren Ohren, eine dazu passende emaillierte rote Kette schmückte ihren Hals. Draußen tobte ein Schneesturm, und es waren minus zehn Grad. Aber hier in diesem kleinen, verqualmten Bistro triefte eine klagende Piaf aus dem CD-Player, und Clotilde Prouteau sah exotisch tropisch und unverhohlen französisch aus.
»Voodoo ist nicht illegal, das wissen Sie doch, oder?«
»Das wissen wir.«
»Es ist eine Religion«, sagte sie.
»Wissen wir auch.«
»Und hier in den USA kann man noch immer die Religion praktizieren, für die man sich frei entschieden hat, nicht wahr?«
Die Rede über die Vier Freiheiten, dachte Carella und fragte sich, ob sie eine gültige Aufenthaltserlaubnis hatte.
»Francisco Palacios hat uns gesagt, daß Sie manchmal die Zeremonie durchführen.«
»Pardon? Die Zeremonie durchführen?«
»Die Zeremonie abhalten. Wie auch immer.«
»Was für eine Zeremonie meinen Sie?«
»Jetzt hören Sie aber auf, Miss Prouteau. Wir sprechen hier über Voodoo, und wir sprechen mit der Lady, die Papa Legba bittet, das Tor zu öffnen, und die Hühner und Ziegen opfert…«
»Opfern? Vraiment, messieurs …«
»Wir wissen, daß Sie Hühner opfern, und Ziegen und…«
»Nein, das verstößt gegen das Gesetz.«
»Aber das interessiert keinen«, sagte Carella.
Sie sah sie an.
Das Gesetz, auf das Clotilde sich bezog, war der Artikel 26, Abschnitt 353 der Landwirtschafts- und Wochenmarkt-Verordnung, der ausdrücklich untersagte, Tiere, ganz gleich ob wild oder zahm, zu überfahren, übermäßig zu belasten, zu quälen, grausam zu schlagen, ungerechtfertigt zu verletzen, zu verstümmeln oder zu töten. Ein Verstoß wurde als Vergehen geahndet und mit einer Haftstrafe von bis zu einem Jahr und/oder einer Geldstrafe von bis zu tausend Dollar geahndet.
Wie die meisten Gesetze in dieser Stadt war auch dieses geschaffen worden, um eine Zivilisation zu schützen, die sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt hatte. Aber Cops setzten die Verordnung nur selten durch, um Tieropfer bei religiösen Zeremonien zu verhindern, weil sonst alle Winkeladvokaten der Bürgerrechtsbewegungen ihre Dienstmarken und Waffen gefordert hätten. Clotilde wog nun ab, ob diese beiden bei ihr die Muskeln spielen lassen würden, weil sie etwas getan hatte, das regelmäßig überall in dieser Stadt geschah, vor allem in Vierteln, die hauptsächlich von Haitianern bewohnt wurden. Warum belästigen sie ausgerechnet mich? überlegte sie. Habt ihr nichts besseres zu tun, messieurs? Habt ihr keine trafiquants zu verhaften? Keine terroristes? Und wie hatten sie das vom Freitag abend überhaupt herausgefunden?
»Wonach genau
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