Long Reach
eine Abkürzung Richtung Creek Road, vorbei an einer alten Kirche. Sie hieß St. Nicholas und hatte ein uraltes, zerfallenes Tor zum Kirchhof, auf dessen Pfosten zwei mitgenommen aussehende Totenschädel mit gekreuzten Knochen thronten. Vielleicht war es ein Piratenfriedhof oder einfach nur eine schaurige Mahnung an das, was uns allen bevorstand.
Ich fühlte mich zappelig und paranoid, als ob mir jemand auf den Fersen wäre, obwohl das nicht sein konnte, da war ich mir sicher. Ich atmete tief durch. Ein Parkspaziergang mit einem hübschen Mädchen, mehr war das hier nicht. Komm runter, Eddie, ermahnte ich mich.
Ich spazierte stadteinwärts, am Markt vorbei. Ein paarGeschäfte hatten geöffnet. Deptford High Street war eine wilde Mischung: Afrikanische Läden, die von Kokosmilch bis zum getrockneten Lungenfisch alles verkauften, lagen direkt neben weiß gestrichenen Galerien, die Bilder von Künstlern aus der Gegend ausstellten. Ich kaufte mir eine Zeitung und setzte mich vor einen kleinen portugiesischen Laden, wo es guten Kaffee gab, und nahm dazu ein kleines Cremetörtchen. Ich versuchte, die Schlagzeilen zu überfliegen, las aber immer wieder den gleichen Satz. Das Koffein machte mich nur noch fahriger, also ließ ich den halben Kaffee stehen und zog weiter Richtung Greenwich.
Um zehn vor vier stand ich am Fuß des Hügels. Ich keuchte hinauf zum höchsten Punkt des Parks, der Statue von General Wolfe entgegen, der von da oben auf das Marinemuseum und über den Fluss auf die Docklands blickte. Fünf Minuten später mischte ich mich unter die Schar von Touristen und Sonntagsspaziergängern, die sich an den Stufen der Statue drängten und den Ausblick bewunderten. Zehn Minuten später drehte ich immer noch meine Runden um den Sockel und fragte mich langsam, ob ich hier richtig war.
Ein Blick auf die Uhr: vier Uhr fünfundzwanzig. Sie würde nicht mehr auftauchen, das war klar. Ich zückte mein Telefon. Keine Nachrichten. Nun, von mir würde es auch keine geben, viel zu armselig und bedürftig.
Und dann sah ich sie. Ein grün-beiger Mini stieß mit quietschenden Reifen in eine Parklücke und Sophie stieg aus. Wie ein Model sah sie aus, groß und blond. Als sie über den Parkplatz rannte, in engen Jeans und Lederjacke, mithüpfendem Pferdeschwanz, drehten sich die Köpfe nach ihr um. Sie
rannte.
Um mich zu sehen.
Ich holte tief Luft. Sei selbstsicher, dachte ich. Sei Eddie. Entspann dich.
»Tut mir echt leid«, sagte sie. »Erst kam ich nicht weg und dann gab’s haufenweise Verkehr und Baustellen auf der A20.«
»Kein Problem«, log ich. »Ich bin auch noch nicht so lang hier. Gehen wir ein bisschen spazieren?«
Wir schlenderten in Richtung der Blumengärten. Die Sonne schien und alles sah schon herbstlich golden aus.
»Wohnst du hier in der Nähe?«, fragte ich.
»Nicht wirklich – wir wohnen draußen, gerade noch innerhalb der M25. Auf dem Land. Und selbst?«
»Ich hab eine Wohnung in Deptford«, erzählte ich ihr.
»Bei deinen Eltern?«
»Beide gestorben«, sagte ich, erfreut darüber, wie natürlich mir meine Geschichte jetzt vorkam. Bei Sophie zeigte sie jedenfalls Wirkung. Ihre Gesichtszüge wurden deutlich sanfter.
»Das tut mir wirklich leid. Das muss hart sein.«
Ich nickte. Meine zusammengepressten Lippen schienen meine Gefühle in Schach zu halten.
»Sind sie schon lange … schon lange tot?« Sie sah wirklich mitleidig aus. Das dürfte meine Eintrittskarte gewesen sein, dachte ich zynisch.
»Ein paar Jahre«, sagte ich. »Krebs. Zuerst Dad, kurz darauf Mum. Pech, was?«
»Mein Vater sagt immer, dass man erst völlig erwachsen wird, wenn man seine Eltern verliert. Er hat seine auch früh verloren.«
Unser erstes Treffen und schon redete sie von ihrem Alten. Ein echter Fortschritt. Ich riskierte eine Nachfrage.
»Wie ist er damit fertiggeworden? Hat sich in die Arbeit gestürzt?«
»Irgendwie schon«, sagte sie. »Gearbeitet hat er immer viel.«
Lief super. Ich ging noch einen Schritt weiter. »Was arbeitet er denn?«
Sofort verspannte sie sich. Von der Seite warf sie mir einen ganz seltsamen Blick zu. »Soll das heißen, das weißt du nicht?«
Ich schüttelte den Kopf. Versuchte, so unschuldig dreinzublicken wie möglich.
»Er ist Geschäftsmann«, sagte sie. »Selbstständig. Aber die Leute erzählen allen möglichen Quatsch über ihn. Sie sind eifersüchtig auf seinen Erfolg.«
»Das ist oft so«, brachte ich heraus, unsicher, wie ich reagieren sollte.
»Glaub
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