Lord der toten Seelen: Royal House of Shadows (German Edition)
ihr die Antwort ab, zähmte ihre Wut, brachte sie zum Nachdenken.
Sie blickte hinauf in das Gesicht des dunklen Lords, der ihr den Befehl erteilt hatte. Sie sah seine Ungeduld, doch sie sah auch ein schnelles Aufblitzen von Vorfreude. „Ist das eine Ehre, mein Lord?“, fragte sie, und die Erkenntnis kam über sie wie ein goldener Regen. „Unter Eurem Thron zu sitzen?“
„Du stellst seltsame Fragen, Liliana.“ Er sagte zum ersten Mal ihren Namen, und es fühlte sich wie ein neuer Zauber an, der sie in schwarze Tentakel hüllte, auf denen leuchtend grüne Flecken schimmerten. „Dieser Thron gehört allein dem Wächter. Jeder Blender, der es wagt, sich hierherzusetzen, stirbt einen fürchterlichen Tod.“
Also war es wirklich eine große Ehre, so nah bei ihm sein zu dürfen.
Deshalb schluckte sie ihren Stolz herunter und kletterte die Stufen zum Thron hinauf – aber sie setzte sich nicht zu seinen Füßen, weil sie das nicht konnte, für niemanden. Stattdessen hockte sie sich ein Stück von ihm entfernt hin, um ihm ins Gesicht sehen zu können. „Es war einmal“, fing sie an, und ihr Puls dröhnte wie Donner in ihren Ohren – denn jetzt konnte alles enden, in einem einzigen falschen Schritt, „ein Land mit Namen Elden.“
Ein Flüstern erhob sich im Raum, geisterhafte Stimmen, die immer lauter murmelten.
„Ruhe!“ Der Lord fuhr mit der Hand durch die Luft.
Schweigen breitete sich aus.
„Weiter.“
Neugierde auf die geisterhaften Bewohner regte sich plötzlich in ihr, aber sie behielt ihre Fragen für sich. Zuerst musste sie herausfinden, ob der Abgrund den letzten Erben gerettet hatte – oder ihn verschlungen. „Dieses Land, dieses Elden, war ein Ort voller Pracht und Wunder. Sein Volk alterte so langsam, dass manche es unsterblich nannten, aber sie waren nicht wirklich unsterblich, sie konnten sterben, doch erst nach Hunderten von Jahren, in denen sie lebten und lernten.
„Weil sie das Lernen so sehr liebten, waren sie bekannt für ihr Wissen und ihren Kunstverstand, und ihre Bibliotheken gehörten zu den besten in allen Königreichen.“ Sie wartete, ob ihr Publikum sie unterbrechen würde, doch die Geister lauschten so gebannt wie der Mann mit den grünen Augen auf dem schwarzen Thron. Also fuhr sie fort. „Elden war auch ein Land voll magischer Energie, und die Leiber seines Volkes waren davon durchdrungen.“ Diese Energie hatte Elden seine Macht verliehen – und es zu einer Zielscheibe gemacht. „Aller Reichtum und alles Wohl von Elden gingen von König und Königin aus. König Aelfric, sagte man …“
„Nein!“ Der Lord der Schwarzen Burg stand auf, die Hände zu Fäusten geballt, die Augen schwarz, und Tentakel glitten über sein ganzes Gesicht. „Diesen Namen wirst du nicht benutzen.“
„Das ist nur ein Name in einem Märchen“, sagte sie, auch wenn die gnadenlose Kälte in seinem Blick ihren Magen verkrampfen ließ. Ihr wurde in diesem Augenblick bewusst, dass er ihrem Leben mit nur einer Bewegung seiner rasiermesserbesetzten Hand ein Ende bereiten konnte. „Er ist nicht echt.“ Diese kleine Notlüge fand sie verzeihlich, solange sie ihr half, die giftigen Spinnweben zu durchdringen, die der Zauber ihres Vaters auf ihn gelegt hatte. „Ihr seid doch sicher kein Kind mehr, das noch Angst vor Märchen hat.“ Sie riskierte viel, denn für diese Dreistigkeit könnte er sie umbringen, aber es stand einfach zu viel auf dem Spiel, um vorsichtig zu sein.
„Du wagst es, mich infrage zu stellen?“ Leise Worte. Tödliche Worte. „Ich werde …“
„Wenn Ihr immer alle in den Kerker steckt, mein Lord“, sagte sie und fegte sich ein unsichtbares Staubkorn von der Tunika, um ihre zitternden Hände zu verbergen, „wäre es ein Wunder, wenn Ihr überhaupt Freunde habt.“
Seine Augen wurden in einem Wimpernschlag grün, und die Tentakel der Rüstung verschwanden aus seinem Gesicht. „Der Wächter des Abgrunds hat keine Freunde.“
Einsamkeit verstand sie. Oh ja, sie verstand, wie sie einen schneiden und beißen konnte, bis man blutete. „Das überrascht mich nicht“, sagte sie, statt ihm ihre Freundschaft anzubieten. Hätte sie das getan, hätte er sie nur wieder in den Schlund der Burg werfen lassen – er war ein mächtiger und stolzer Mann, und seine Arroganz hatte er sich durch finstere Arbeit verdient. „Keine leichte Aufgabe“, sagte sie und riskierte damit zum zweiten Mal in ebenso wenigen Minuten ihr Leben. „Jemandem eine Geschichte zu erzählen, der
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