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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Mund mit den fleischigen Lippen viel zu schmal. Der Fremde besitzt ein langes Kinn, dafür aber eine niedrige Stirn, was möglicherweise ein Effekt der lockigen Perücke ist, die den eigentlichen Haaransatz überdeckt. Die Farblosigkeit seiner Kleidung wird von einem nun sichtbaren weißen Leinenhemd ergänzt, das locker unter dem Rock sitzt. In einem breiten Hüftgurt baumelt eine blankpolierte Steinschloßpistole. Der Mariner klopft seine Pfeife am Handrücken aus und steckt sie in eine Tasche seines Rocks.
    »Willkommen, Sir!« begrüßt er sie mit sonorer Stimme. »Ich habe gerade an Euch gedacht.« Er steht stramm wie eine Handspake. »Käpt’n Alexander Smollett steht zu Diensten, Sir! Ich hoffe, Ihr hattet einen angenehmen Nachmittag.« Er macht ein erschrockenes Gesicht, nimmt hastig den Dreispitz vom Kopf, rückt seine Perücke gerade und hält ihr beinahe entschuldigend die Kopfbedeckung hin. »Euer Hut, Sir!« Als sie nicht reagiert, schwenkt er den Dreispitz ungeduldig hin und her. »Ihr batet mich, ihn während Eurer Abwesenheit an mich zu nehmen«, erinnert er sie.
    »Oh, ja …« Sie begutachtet die Kopfbedeckung. Sie besitzt eine breite gelbe Krempe und einen Teerzopf und riecht erbärmlich nach altem Filz und muffigem Haar. Smollett nickt beifällig, als sie ihn zögernd aus seiner Hand nimmt und aufsetzt.
    »Ein feiner Hut«, bemerkt er, schielt an ihr vorbei, hinauf zur Düne. »Ich empfehle, sofort in See zu stechen, Sir.«
    »Warum die Eile?« fragt sie.
    »Die hundertarmige Insel ist keine dreißig Seemeilen von hier gesichtet worden, Sir. Wenn wir nicht sofort auslaufen, wird sie uns wieder entwischen.« Er biegt seinen Oberkörper zur Seite, hebt skeptisch die Augenbrauen. »Wir könnten natürlich auch die Abendflut abwarten«, murmelt er gedankenverloren, »aber mich dünkt, bis dahin haben die Bewohner dieses Eilandes es vorgezogen, uns zu verspeisen.«
    »Bewohner?«
    Smollett deutet zur Düne hinauf. »Diese Bewohner!«
    Sie blickt in die Richtung seiner ausgestreckten Hand und erstarrt. Auf dem Dünenkamm, den sie eben hinabgeschritten ist, haben sich unzählige schweigsame, echsenköpfige Gestalten versammelt. Die meisten von ihnen sitzen reglos im Sand und beobachten aufmerksam das Geschehen auf dem Pier, während von hinten unaufhörlich Neuankömmlinge dazustoßen. Dichtgedrängt bedecken sie über hundert Meter weit den Dünenrücken. Obwohl der Schoner verlassen daliegt, ist diese Horde wohl kaum die Mannschaft des Schiffes.
    »Sind das Kinder?« erkundigt sie sich mit zusammengekniffenen Augen.
    »Sehr unwahrscheinlich.«
    »Warum tragen sie diese scheußlichen Masken?«
    Smollett zieht eine Grimasse. »Das sind keine Masken, Sir«, antwortet er gestelzt. »Soweit ich informiert bin, besitzen diese Leute einen ausgesprochen guten Appetit und können vorzüglich kauen!«
    Sie schluckt, betrachtet den Aufmarsch der nackten, hüfthohen Wesen. »Wenn das so ist, mein lieber Smollett, lichten wir sofort den Anker!« beeilt sie sich zu sagen. »Jagen wir die hundertarmige Insel.«
    »Sehr vernünftig«, lobt der Kapitän erleichtert, macht auf dem Absatz kehrt und eilt über den Pier. »Kommt, Sir!« ruft er ihr über die Schulter zu.
    Augenblicklich erheben sich ein paar der bizarren Geschöpfe und beginnen, den Hang hinabzustaksen. Nun, da sich ihre Reihen lichten, kann sie auch erkennen, warum sie wie aus dem Nichts auftauchen konnten: sie kriechen wie die Eidechsen aus dem Sand. Körper für Körper wühlt sich ins Freie. Eilig folgt sie Smollett, wirft dabei immer wieder einen Blick hinauf zur Düne. Unter ihren nackten Fußsohlen spritzt Wasser, von der Sonne erwärmte Pfützen bedecken den Pier. Am sanft auf- und abwiegenden Rumpf des Schiffes angekommen, sieht sie ratlos hinauf zur Reling. Es gibt weder eine Planke, noch eine Strickleiter oder ein Tau, an dem man sich an Bord hangeln könnte. Nur ein großes, in Brusthöhe gähnendes Schlüsselloch in der Steuerbordwand, vor dem Smollett steht und nervös seine Hände ringt.
    »Der rote Schlüssel, Sir!« verkündet der Kapitän. Er greift in seinen Rock und zieht einen armlangen Schlüssel hervor. Sie erhascht einen Blick unter Smolletts Kleider, weiß aber nicht zu sagen, aus welcher verborgenen Tasche er das sperrige Utensil gezogen hat.
    »Warum hast du das Schiff nicht gleich aufgeschlossen?« fragt sie verärgert.
    »Ihr wißt doch, das kann ich nicht«, erwidert Smollett und sieht verlegen auf seine Schuhspitzen. »Bei

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