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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Schweigen beiderseits, oder täusche ich mich?
    Der Rüssel blickt stumm. Ich entdecke auch keinen Mund (hinter der Maske?), mit dem er das Wort ergreifen könnte. Ebensowenig einen Lautsprecher. Er schwebt vor mir, um zu sehen. Was er sieht, gleicht einem wilden, blutbesudelten Tier nach einer Freßorgie. Konversation: Fehlanzeige. Kein ›Hallo, wie geht’s? Man nennt mich Rüssel. Warum sitzen Sie nicht brav und starr auf Ihrem Platz wie alle anderen?‹
    Nein, kein Ton.
    Vielleicht sind meine Trommelfelle geplatzt durch den Unterdruck, der bis vor wenigen Minuten geherrscht hat. Hartgefroren, und dann Zisch! Klirr!, als der Sturm und die Hitze zurückgekehrt waren.
    Der Rüssel biegt sich wirklich wie ein staunender Wurm, visiert nun meine nackten Füße. Irgend etwas an ihnen scheint ihn zu faszinieren, denn er betrachtet sie länger als mein Gesicht. Vielleicht hält er sie für das intelligentere Ende von mir, weil sie sauber sind. Oben oder unten, hinten oder vorn; typischer Entscheidungskonflikt eines Wurms.
    Ich wackle mit den Zehen. Nicht als ein Versuch, mit ihm zu kommunizieren, sondern weil sie zum Gotterbarmen schmerzen. Die Wärme läßt das Blut in den halberfrorenen Gliedmaßen rasen.
    Meine Finger, mein Gesicht, meine Ohren, alles schmerzt und sticht. Ich taue zum zweitenmal auf. Wahrscheinlich ist es jetzt nicht wärmer als vor dem Öffnen der Tür, aber die wenigen Minuten bei minus weißderteufelwieviel Grad hatten gereicht, um mich bis auf die Knochen auszukühlen. Hinzu kommt der Druck auf meinen Augen und den Trommelfellen. Ich bin ständig versucht zu gähnen, um diesen dumpfen Druck aus den Ohren zu kriegen.
    Der Sturm, der Seetha aus der Kabine in den bodenlosen Raum gerissen hat, war durch die offenstehende Kabinentür wieder hereingebraust, und mit ihm die Wärme, die mir wie von einer Heißluftturbine getrieben die Haut versengt hat. Ich fühle mich trocken, spröde, fürchte, alles an mir könne abbröckeln, wenn ich mich zu hektisch bewege. Der Kabineninnendruck hat sich in Sekundenschnelle normalisiert, nachdem sich die Schleuse von dem riesigen Ding, das neben dem Flugzeug schwebt, gelöst und an den offenstehenden Notausstieg gekoppelt hat. Aus ihr waren die Hitze und die Luft zum Atmen in die Kabine gefegt. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob dieses schwarze Monstrum dort draußen eine Flugmaschine ist oder nicht doch ein gigantisches Insekt, dem es weitaus ähnlicher sieht; die vermeintliche Schleuse sein Maul, der Rüssel seine Zunge. Und ich – ein leckeres Fressen …
    Nein, es ist ein künstliches Objekt. Es muß ein künstliches Objekt sein! Ich habe diese Tortur nicht durchgestanden, um letzten Endes in einem garagengroßen Käfermagen zu enden. Insekten besitzen auch keine Scheinwerfer. Selbst dann nicht, wenn sie doppelt so groß sind wie Fesselballons. Es ist eine beruhigende Gewißheit. Und dieses riesige Ding an Steuerbord, das aus der Tiefe heraufgeschwebt war, besitzt Scheinwerfer, die allesamt die Flugzeugflanke erfaßt haben. Und Fenster, die hell erleuchtet sind. Oder Augen, die gierig glitzern …?
    Auf das Wackeln meiner Zehen hin richtet sich der Kamerawurm wieder auf. Das Blut, das mich bedeckt, ist getrocknet und bildet eine störende Kruste auf meiner Haut. Ich fühle mich dreckig, ekle mich vor mir selbst, sehne mich angesichts der unverhohlenen Musterung nach einer Dusche. Vor allem mein Gesicht muß nach dem Nasenbluten schlimm aussehen. Ich wische mir mit dem Ärmel über den Mund. Der gesamte Anzug ist rot besudelt. Mit Sicherheit habe ich blutunterlaufene Augen. Ob Wurm oder Kamera, ich muß für denjenigen, der mich betrachtet, wie ein tollwütiger Kannibale wirken.
    »Können Sie mich verstehen?« schallt eine tiefe Stimme durch die Kabine. Ich zucke zusammen, pisse mir vor Schreck fast in die Hose. Soviel zum Zustand meiner Trommelfelle. Der Fragesteller besitzt einen eigenartigen Akzent, scheint Probleme mit den Konsonanten zu haben. Ich starre auf die schwarze Linse an der Wurmfront. Die Stimme kam nicht von ihr, sondern definitiv über die Bordlautsprecher. Ergo: der Sprecher muß im Cockpit sitzen.
    »Können Sie mich verstehen?« fragt er wieder, diesmal lauter. Als ich nicht reagiere, wiederholt er es auf französisch, spanisch, deutsch …
    »Ja, ich höre Sie!« rufe ich heiser und stoppe damit seinen Wortschwall. Sekundenlang herrscht Stille. »Wer sind Sie?« Keine Antwort. »Hören Sie, wo immer Sie auch sein mögen: eine Frau ist

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