Lord Peter 03 - Keines natürlichen Todes
Sonst sah er in der Kirche nur noch einen Geistlichen in Soutane, der gerade den Hochaltar schmückte. Es war ja das Fest des heiligen Johannes, fiel Wimsey plötzlich ein. Er ging den Mittelgang hinauf, um sein Opfer vielleicht irgendwo in einer finsteren Ecke zu finden. Seine Schuhe quietschten. Das ärgerte ihn. So etwas würde Bunter nie durchgehen lassen. Unwillkürlich beschlich ihn der Gedanke, das Quietschen könne von dem Teufel in ihm stammen, der gegen die fromme Atmosphäre protestierte. Die Vorstellung gefiel ihm so, daß er jetzt zuversichtlicher weiterging.
Das Quietschen machte den Geistlichen auf ihn aufmerksam. Er drehte sich um und kam dem Eindringling entgegen. Zweifellos, dachte Wimsey, um mir seine geistlichen Dienste bei der Austreibung des bösen Geistes anzubieten.
»Suchen Sie vielleicht jemand?« erkundigte sich der Geistliche höflich.
»Ja, ich suche eine Dame«, begann Wimsey. Dann fiel ihm ein, daß dieses Ansinnen den Umständen gemäß vielleicht ein bißchen merkwürdig klang, weshalb er sich beeilte, mit gedämpfter Stimme, die er der geheiligten Umgebung für angemessen hielt, sein Begehren näher zu erläutern.
»Ach so«, sagte der Geistliche gänzlich unbekümmert. »Ja, Miss Climpson war vor einer kleinen Weile noch hier, aber ich glaube, jetzt ist sie nicht mehr da. Ich führe zwar gewöhnlich nicht Buch über meine Herde«, fügte er lachend hinzu, »aber sie hat noch mit mir gesprochen, bevor sie ging. Ist es etwas Dringendes? Schade, daß Sie sie verpaßt haben. Kann ich ihr etwas ausrichten oder Ihnen sonst irgendwie behilflich sein?«
»Nein danke«, sagte Wimsey. »Entschuldigen Sie die Störung. Es schickt sich wohl nicht ganz, einfach hier hereinzukommen und Leute aus der Kirche schleppen zu wollen, aber – doch, es war schon einigermaßen wichtig. Ich werde eine Nachricht in ihrer Pension hinterlassen. Haben Sie allerbesten Dank.«
Er wandte sich zum Gehen, doch dann hielt er inne und kam noch einmal zurück.
»Sagen Sie, bitte«, begann er, »Sie beraten doch manchmal Leute in moralischen Fragen und so, nicht wahr?«
»Nun ja, wir sollten es zumindest versuchen«, antwortete der Geistliche. »Haben Sie etwas Bestimmtes auf dem Herzen?«
»J-a-a«, meinte Wimsey. »Nichts Religiöses – ich meine, mit der Unfehlbarkeit oder der Jungfrau Maria oder dergleichen hat es nichts zu tun. Es geht um eine Sache, bei der mir nicht recht wohl ist.«
Der Geistliche – es handelte sich um Mr. Tredgold, den Vikar – erklärte ihm, daß er Lord Peter ganz zu Diensten stehe.
»Sehr freundlich von Ihnen. Aber könnten wir irgendwohin gehen, wo ich nicht so flüstern muß? Ich kann niemals etwas richtig erklären, wenn ich flüstern muß. Irgendwie lähmt mich das, verstehen Sie?«
»Gehen wir doch nach draußen«, sagte Mr. Tredgold.
Sie gingen hinaus und setzten sich auf eine niedere Tumba.
»Die Sache ist die«, begann Wimsey. »Ein hypothetischer Fall, Sie verstehen, nicht wahr? Angenommen, man kennt jemanden, der sehr, sehr krank ist und sowieso nicht mehr lange zu leben hat. Der Betreffende hat schreckliche Schmerzen und muß immerzu Morphium bekommen – im Grunde ist er also für die Welt schon tot, nicht wahr? Und angenommen, dieser Kranke könnte dadurch, daß er gleich stirbt, noch etwas bewirken, was er sowieso möchte, was aber nicht geschehen kann, wenn er noch ein Weilchen länger lebt, (ich kann jetzt nicht so genau erklären, warum das so ist, sonst müßte ich persönliche Details verraten und so weiter) – Sie verstehen? Gut, also angenommen, jemand weiß das und gibt der betreffenden Person sozusagen einen kleinen Schubs – beschleunigt ein wenig den Gang der Dinge – warum sollte das so ein schweres Verbrechen sein?«
»Das Gesetz –«, begann Mr. Tredgold.
»Na klar, nach dem Gesetz ist es ein Verbrechen«, sagte Wimsey. »Aber halten Sie es, ehrlich, für sehr schlimm? Ich weiß, für Sie ist es natürlich eine Sünde, aber warum soll es eine so furchtbar schwere Sünde sein? Schließlich tut man dem Menschen doch nichts Böses, oder?«
»Das können wir nicht beurteilen«, sagte Mr. Tredgold, »wenn wir nicht wissen, was Gott mit dieser Seele vorhat. In den Wochen oder Stunden des Schmerzes und der Bewußtlosigkeit legt vielleicht die Seele einen notwendigen Teil ihrer irdischen Wanderung zurück. Es ist nicht unsere Aufgabe, diesen Weg abzukürzen. Wer sind wir denn, daß wir Leben und Tod in unsere Hände nehmen dürften?«
»Nun, auf
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