Lord Stonevilles Geheimnis
bekannt für seine Affären mit Tänzerinnen und leichten Mädchen. Er treibt sich ständig in Londons Lasterhöhlen herum und lässt Halstead Hall vor die Hunde gehen.«
Eine plötzliche Beklemmung in der Brust erschwerte Maria das Atmen. »Wo ist es passiert?«
Mr Pinter stutzte. »Was?«
»Das Unglück mit seinen Eltern. Wo ist es passiert?«
»In der Jagdhütte auf seinem Anwesen. Warum?«
Manches ließe man besser verrotten, hatte Oliver gesagt. Nun gewann seine bittere Aussage eine ganz neue Bedeutung. »Und wie alt war er damals?«, fragte Maria.
»Sechzehn, glaube ich.«
Ihr zerriss es vor Mitleid das Herz. »Er war noch blutjung, um Himmels willen! Haben Sie denn gar kein Mitgefühl? Er hat seine Eltern auf die schlimmste Art und Weise verloren, die man sich vorstellen kann, und musste plötzlich in diesem zarten Alter die Rolle des Familienoberhaupts für seine vier jüngeren Geschwister übernehmen. Wenn es Ihnen so ergangen wäre, würden Sie dann nicht die ganze Welt hassen? Oder sich in irgendeinen Sündenpfuhl stürzen?«
Mr Pinter machte ein mürrisches Gesicht. »Nein, ich würde aus der Tragödie lernen und ein schlichteres Leben führen. Doch er und seine Geschwister sind ununterbrochen nur darauf aus, die Gesellschaft mit ihrem ungehörigen Benehmen zu schockieren.«
Maria dachte daran, wie liebenswürdig die Sharpes alle miteinander umgingen und wie hilfsbereit sich die beiden Schwestern ihr gegenüber gezeigt hatten. Dann fiel ihr ein, dass das Dienstmädchen ihr erzählt hatte, wie schlecht sie von der Gesellschaft behandelt wurden, und verlor die Beherrschung.
Sie sprang auf und nahm den Ermittler grimmig ins Visier. »Ich finde es äußerst verwerflich, dass Sie sich ein Urteil über diese Familie erlauben, ohne sie persönlich zu kennen. Wie können Sie es wagen?«
Sichtlich überrascht erhob sich Mr Pinter ebenfalls. »Das Schlimmste habe ich Ihnen noch gar nicht erzählt! Nach dem Tod seiner Eltern hat er alles geerbt. Manche Leute sagen, er wisse mehr über das, was sich zugetragen habe, als er zugeben wolle. Dass er vielleicht sogar dabei gewesen ist, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Ihr lief es eiskalt über den Rücken. »Nein, ich verstehe nicht , was Sie meinen, Sir. Sie wollen doch gewiss nicht andeuten, dass er …«
» Andeuten will Mr Pinter gar nichts«, sagte jemand bissig hinter ihr.
Als sie sich umdrehte und Oliver in der Tür stehen sah, wurde ihr ganz flau im Magen. Mit seinem schwarzen Umhang, seiner starren Miene und den tief liegenden dunklen Augen erinnerte er sie an den großen schwarzen Jagdfalken, den sie früher einmal zu Hause dabei beobachtet hatte, wie er aus dem Himmel herabstieß, um seine Beute mit dem Schnabel im Genick zu packen.
Oliver betrat mit wehendem Umhang den Raum. »Er bringt seine Meinung über mich doch sehr deutlich zum Ausdruck: Ich bin ein mieser Schuft und ein Wüstling. Ich bin nicht vertrauenswürdig, und wahrscheinlich habe ich auch noch meine Eltern auf dem Gewissen.«
11
Als Pinter den Vorwurf nicht bestritt, hätte Oliver ihn am liebsten erwürgt. War es ihm denn nicht vergönnt, wenigstens einen Menschen in seiner Nähe zu haben, der ihn so sah, wie er war, ohne dass das Bild durch unzählige Gerüchte über seine Vergangenheit getrübt wurde? Jedes Mal, wenn er dachte, der elende Klatsch sei verstummt, zeigte er wieder seine hässliche Fratze.
Kaum zu glauben, dass Pinter sich die dreiste Aussage anmaßte, seine Familie hätte aus der Tragödie lernen sollen! Der verdammte Arsch hatte doch keine Ahnung, wovon er redete!
Er hätte Pinter wahrscheinlich sofort unterbrechen sollen, als er im Vorzimmer gehört hatte, welche Richtung das Gespräch einschlug. Aber wenn er nicht von der Tür aus gelauscht hätte, hätte er nicht gehört, wie energisch Maria ihn und seine Geschwister verteidigt hatte.
Haben Sie denn gar kein Mitgefühl?, hatte sie ihn angeherrscht. Ihre Worte drohten den Deckel der eisernen Truhe aufzubrechen, die Oliver stets fest verschlossen hielt. Es hatte sich noch nie jemand wegen irgendetwas für ihn eingesetzt, und schon gar nicht aus so tiefer Überzeugung.
Aber dann hatte Pinter alle Sympathie, die sie vielleicht für ihn gehegt hatte, zunichtegemacht, indem er ihr »das Schlimmste« erzählt hatte. Nun blickte Maria so entsetzt drein, dass Oliver hätte schreien können.
»Sie können doch unmöglich
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