Lord Stonevilles Geheimnis
Von Wut und einem anderen undefinierbaren Gefühl ergriffen blieb Oliver erschüttert an seinem Schreibtisch stehen. Welche Dreistigkeit von seinem Bruder, ihm vorzuschreiben, was er zu tun hatte! Es war einfach lachhaft. Und dass sein treuester Diener es gewagt hatte …
Oliver verzog das Gesicht. Johns Gewissen musste tatsächlich gelitten haben, wenn er Jarret von der Kutschfahrt erzählt hatte. Und dass sein Diener geahnt hatte, was geschehen war, ließ Oliver das Blut in den Adern gefrieren. Warum war ihm nicht klar gewesen, was sein Personal denken würde?
Plötzlich fiel ihm Marias Gesichtsausdruck ein, als er gesagt hatte, seine Diener wüssten, dass sie die Kutschentür nicht öffnen durften, wenn die Vorhänge zugezogen waren.
Er ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen und starrte mit leerem Blick ins Kaminfeuer. Was war nur mit ihm los? Er hatte gedacht, er hätte sie nur beleidigt und erschreckt, aber tatsächlich hatte er ihr viel mehr angetan. Kein Wunder, dass sie nach dem Verlassen der Kutsche so reserviert gewesen war. Kein Wunder, dass sie keine Kleider von ihm geschenkt bekommen wollte. Er hatte sie praktisch vor seinen Dienern als Hure hingestellt, dabei wusste er doch, wie empfindlich sie in dieser Hinsicht war.
Und das mit gutem Grund. Sie war eine ehrbare Frau. Und eine Erbin. Eine sehr reiche Erbin.
Verflucht noch eins! Er hatte nicht geahnt, dass sie so vermögend war. Und wenn sie selbst nichts von ihrem Reichtum wusste, dann war es für diesen Hyatt noch viel leichter, sie auszunutzen.
Oliver kippte den Rest seines Brandys hinunter und stellte das Glas polternd auf den Schreibtisch. Er musste sie vor diesem Mann bewahren. So viel war er ihr schuldig. Er würde schon dafür sorgen, dass Miss Maria Butterfield dieses habgierige Frettchen, das es auf ihr Vermögen abgesehen hatte, auf dem schnellsten Weg loswurde.
Hetty erwachte aus ihrem Nickerchen, als sich die Bibliothekstür mit einem leisen Knarren öffnete. Sie wollte gerade aufstehen, um nachzusehen, wer den Raum betreten hatte, als noch jemand hereinkam und sie Minerva sagen hörte: »Und? Was denkst du? Habe ich recht in Bezug auf Oliver und Miss Butterfield?«
Sie machte sich ganz klein in ihrem Sessel in der Ecke und hoffte, dass man sie nicht bemerkte.
»Sieht ganz so aus.« Es war Jarrets Stimme. »Er scheint tatsächlich echte Gefühle für sie zu hegen. So habe ich ihn noch nie erlebt. Du hättest ihn sehen sollen … Er hätte mich fast erwürgt, als ich angedeutet habe, dass ich versuchen könnte, sie ihm wegzunehmen.«
»Eine glänzende Idee!«, rief Minerva. »Ich habe dir doch gesagt, er mag sie. Und ich wage die Vermutung, dass sie ihn auch mag. Nach ihrer Rückkehr bin ich zu ihr ins Zimmer gegangen, und sie ist ganz rot geworden, als ich fragte, ob Oliver sich benommen habe.«
»Das ist ja das Problem. Dass er sie mag, ist eine Sache, aber ob er es schafft, den Anstand zu wahren, ist eine ganz andere. Oliver ist es nicht gewohnt, mit einer Frau zu verkehren, mit der er nicht … äh …«
»Ins Bett hüpfen kann?«
Hetty horchte auf.
»Mein Gott, Minerva, rede bitte nicht so! Von solchen Dingen darfst du gar nichts wissen.«
»Papperlapapp! Ich bin mit einem Wüstling als Vater und drei verdorbenen Brüdern aufgewachsen. Da habe ich zwangsläufig das eine oder andere mitbekommen.«
Hetty konnte sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen.
»Aber dann tu wenigstens so, als hättest du keine Ahnung, ja?«, murrte Jarret. »Sonst sagst du eines Tages so etwas in der Öffentlichkeit, und ich bekomme einen Herzinfarkt.«
»Wir müssen es schaffen, die beiden irgendwie zusammenzubringen«, sagte Minerva. »Wenn Oliver heiratet, wird Großmutter diese absurde Idee vergessen, dass wir alle heiraten müssen. Sie will doch nur, dass er für einen Stammhalter sorgt.«
Hetty zog die Augenbrauen hoch. Ihre Enkelin würde eine große Überraschung erleben.
»Und du bist bereit, ihn ans Messer zu liefern, um deine eigene Haut zu retten, nicht wahr?«, erwiderte Jarret.
»Nein!«, rief Minerva, dann dämpfte sie ihre Stimme. »Wir wissen doch beide, dass er jemanden braucht, der ihn vor sich selbst rettet. Sonst wird er mit dem Alter immer schlimmer.« Sie hielt inne. »Hast du ihm gesagt, dass Miss Butterfield eine wohlhabende Erbin ist?«
Nun war Hetty mit einem Schlag hellwach. Dass das Mädchen reich war, hätte sie sich nicht träumen
Weitere Kostenlose Bücher