Lords und Ladies
genug Stuhl übrig, um erneut
zuzuschlagen. Das Geschöpf fiel nach hinten und griff nach dem Dek-
kel, der daraufhin zuklappte. Magrat vernahm ein dumpfes Pochen und
dann einen langen, zornigen Schrei, als der Elf durch eklige Dunkelheit
fiel. Sie durfte natürlich nicht hoffen, daß er sich zu Tode stürzen würde
– schließlich würde er auf etwas Weichem landen.
»Der Aufprall bringt ihn nicht um«, murmelte sie. »Aber vielleicht er-
stinkt er.«
Man mag nur zwei Sekunden Zeit gewinnen, wenn man sich unterm
Bett versteckt. Doch manchmal reichen diese zwei Sekunden aus.
Magrat ließ die Reste des Stuhls los. Sie zitterte. Aber sie lebte noch,
und das fühlte sich gut an. Darin besteht einer der Vorteile des Lebens:
Man kann es genießen, am Leben zu sein.
Magrat spähte in den Flur.
Sie durfte nicht hier bleiben. Entschlossen griff sie nach einem Stuhl-
bein und wagte sich durch die Tür.
Erneut hörte sie einen Schrei, und zwar vom Großen Saal her.
Magrat sah in die andere Richtung, durch die Lange Galerie. Und sie
lief los. Irgendwo mußte es einen Weg nach draußen geben, ein Tor oder
ein Fenster…
Ein innovativer König hatte hier die Fenster verglasen lassen. Der
Mondschein schimmerte durch große, silberne Blöcke, die sich mit
schwarzen Quadraten abwechselten.
Magrat hastete von Licht zu Schatten, von Licht zu Schatten, durch ein
endloses Zimmer. Dutzende von Monarchen glitten an ihr vorbei, wie
die Geschichte von Lancre im Zeitraffer. König nach König, mit Bärten
und Kronen. Königin nach Königin, mit Miedern, Korsetts, sanften Fal-
ken, kleinen Hunden und…
Irgend etwas durchdrang die Barriere aus Entsetzen und weckte Ma-
grats Aufmerksamkeit: vielleicht der besondere Gesichtsausdruck eines
Gemäldes, ein seltsamer Reflex, hervorgerufen vom wechselhaften
Glanz des Mondes…
Sie verharrte vor einem Bild, das sie nie zuvor bemerkt hatte. So weit
war sie schließlich auch noch nicht in die Lange Galerie vorgedrungen.
Die geradezu idiotische Geistlosigkeit der vielen Königinnen hatte sie zu
sehr deprimiert. Doch dieses Porträt…
Es schien eine Botschaft zu verkünden, die Magrat hören konnte.
Sie blieb stehen.
Dieses Bild konnte unmöglich zu Lebzeiten der betreffenden Königin
angefertigt worden sein. Damals war nur eine Art Blau bekannt gewesen,
das man hauptsächlich am Körper verwendete. Nun, vor einigen Gene-
rationen hatte König Lul y I. regiert, ein Monarch mit historischen Inter-
essen und einem gewissen Hang zur Romantik. Er stel te Nachforschun-
gen über die Anfänge von Lancre an, und wo deutliche Anhaltspunkte
fehlten, folgte er der Tradition engagierter Historiker: Er zog Schlußfol-
gerungen aus dem Offensichtlichen* und extrapolierte aus zuverlässigen
Quellen.** Auf der Grundlage solcher Informationen gab er ein Gemälde
in Auftrag, das Königin Ynci die Unbeherrschte zeigte, eine der Gründe-
rinnen des Königreichs Lancre.
Ynci trug einen Helm mit Schwingen und einer Spitze. Die lange Mäh-
ne bildete eine dichte Lockenmasse, wobei Blut als Haarfestiger verwen-
det worden war. Das alles andere als sparsam aufgetragene Make-up
* Mit anderen Worten: Er erfand Dinge.
** Er las Bücher von Leuten, die ebenfal s historische Fakten erfanden.
wurde der Waid-und-Blut-und-Spiralen-Schule barbarischer Kosmetik
gerecht. Der Brustharnisch wies zwei beeindruckend große Stahlkörbe
auf, und es fehlte ihm ebensowenig an Spitzen wie den Schulterplatten.
Spitzen zierten auch die Knieschützer und Sandalen. Hinzu kam ein
recht kurzer Rock mit modischen Karo- und Blutmustern. Eine Hand
ruhte lässig auf dem Griff einer großen, mit Spitzen ausgestatteten Streit-
axt, und die andere hielt den Arm eines feindlichen Kriegers. Der Rest
des Gegners hing an verschiedenen Bäumen im Hintergrund. Das Por-
trät zeigte auch Spitze, das Lieblingspony der Königin – es gehörte zu
jener inzwischen ausgestorbenen Lancrespezies, deren Erscheinungsbild
und Leidenschaft am besten mit einem Faß Schießpulver verglichen
werden kann – und ihren Streitwagen, dem es ebenfal s nicht an Spitzen
mangelte. Mit den Rädern hätte man sich auch rasieren können.
Magrat starrte auf das Bild.
Darauf hatte sie niemand hingewiesen.
Man hatte ihr nur immer von Tapisserien, Stickereien und Reifröcken
erzählt, um ihr anschließend noch zu erklären, wie man adligen Herrn
die Hand reichte. Von metal enen Spitzen und Brustpanzern und
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