Loretta Chase
junge Frau, die in einen
jungen Mann verliebt war, der sie vergötterte – jener gut aussehende junge
Offizier auf der Miniatur, der ihr die schönsten, liebevollsten,
herzzerreißendsten Briefe geschrieben hatte.
»Ich habe
keine Angst vor weinenden Frauen«, drang eine tiefe Stimme durch den
tränenverhangenen Nebel. Sie drehte sich um.
»Mein
Bruder Rupert fürchtet weder Schlangen, Skorpione noch Krokodile, aber er hat
Angst vor weinenden Frauen«, sagte Mr. Carsington, als er hereinkam und
die Tür leise hinter sich schloss. »Es ist wahrlich ein beängstigender Anblick,
dazu angetan, auch den Tapfersten zu entmutigen. Ich hingegen habe keine Angst,
denn ich komme gewappnet.« Er zückte sein Taschentuch.
Sie begann
laut zu schluchzen.
Mit raschen
Schritten durchquerte er das Zimmer. »Kommen Sie«, sagte er. »So schlimm
kann es doch nicht sein.« So leicht, als wäre sie eine Stoffpuppe, zog er
sie hoch.
Sie sank an
seine Schulter und weinte.
Er legte
seine Arme um sie.
»Ich weiß
nicht, was ich tun soll«, schluchzte sie.
»Lady
Charlotte«, sagte er.
»In ein
paar Tagen kommen sie«, sagte sie. »Was soll ich nur tun? Ich ertrage es nicht. Wie
hat sie es ertragen? All die Jahre. Ich werde wahnsinnig – ich werde eine verrückte
Alte und mache hundert Testamente.«
»Nein, das
werden Sie nicht«, sagte er und strich über ihr Haar.
»Sie
verstehen mich nicht«, sagte sie.
»Nein«,
sagte er. »Ich verstehe Sie wirklich nicht.«
Ich ertrage
dieses Leben nicht.
Ich möchte
einmal wieder glücklich sein, und wenn es nur für einen kurzen Augenblick
ist.
Charlotte
hob ihren Kopf von seiner Schulter und sah ihn an, schaute in diese seltsam
golden schimmernden Augen, die nun so sanft und verwundert blickten.
Sie hob die
Hand und berührte ihn zwischen den Brauen, wo ein leises Stirnrunzeln sich
andeutete. Mit dem Finger fuhr sie seine Stirn entlang, folgte dann dem markanten
Schwung seiner Wange. Sie lächelte und berührte seine Nase.
Auch er
lächelte, und die stille Verwunderung schwand aus seinen Augen. Was sie nun dort
gewahrte, schien ihr fast wie Liebe.
Sie strich
mit den Fingern über seine Lippen.
Ich hatte
einst die Chance auf ein großes Glück.
Sie hatte
diese Chance auch. Jetzt, in diesem Augenblick.
Diesmal
ging sie behutsam vor. Ganz sachte legte sie die Hand auf
seine Wange. Dann reckte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn mit all der
Sehnsucht, die sie in sich spürte.
Er legte
seine Hand auf die ihre und erwiderte den Kuss, der so zärtlich und wahrhaftig
wie der Kuss frisch Verliebter war.
Ihre
Vergangenheit war nur noch ein schlechter Traum, aus dem sie nun erwacht war.
Dies hier
war wirklich und wahrhaftig, diese süße, innige Zärtlichkeit junger Liebe.
Nichts und
niemand zählte mehr in diesem Augenblick, nur noch sie beide und diese kleine
Ewigkeit des Glücks.
Sie schlang
die Arme um seinen Hals.
Und ihr
Herz sagte Ja.
Ja, ich
will.
Kapitel 11
Es wäre so einfach gewesen, sich ihr zu
entziehen. Die federleichte Berührung ihrer Finger auf seiner Haut, ihre zärtliche
Liebkosung, der sanfte Druck ihrer Lippen auf den seinen. Nichts einfacher als
das.
Er hätte
nur den Kopf abwenden, einen Schritt zurücktreten müssen.
Hätte er.
Hatte er
aber nicht.
Konnte er
nicht.
Als sie den
Kopf hob, sah er die letzten Tränen in ihren langen Wimpern schimmern. Er sah
ihr unerwartet liebevolles Lächeln, als sie sein Gesicht auf eine Weise
liebkoste, die der so ähnlich war, als er sie kürzlich mit federleichten Küssen
zu gewinnen versucht hatte.
Ewig hätte
er so stehen bleiben und sich an ihr berauschen können: ihrem unwirklich
schönen Gesicht, ihrem feinen, innigen Lächeln, ihrer weichen, liebkosenden
Hand.
Damit wäre
er für immer zufrieden gewesen, damit und mit dem Kuss, der schier unerträglich
lieblich gewesen war. Ein Mädchenkuss, ohne alle List und Tücke, so ehrlich,
unschuldig und hingebungsvoll.
Selbst als
sie die Arme um seinen Hals legte, hätte er sich nur ermahnen müssen, dass sie
eben das war: ein Mädchen. Unberührt und unschuldig. Er hätte nur ihre Arme
behutsam von sich nehmen und einen Schritt zurücktreten müssen. Damit wäre es
gut gewesen. Ihre Berührung, die Liebkosung, der Kuss – nicht mehr als ein
Dankeschön.
Sie hatte
des Trostes bedurft, er hatte sie getröstet. Sie war ihm dankbar
und drückte ihren Dank in einer Liebkosung und einem Kuss aus. Und damit war es
genug.
Er nahm
seinen Mund von ihrem. Er hob
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