Loretta Chase
Pöbel die Bastille
gestürmt hatte. Sie ließ ihren Blick über ihn schweifen. Erst von unten nach
oben, dann wieder hinab. »Scheint, als hätte dir jemand das Gefieder gezaust«,
meinte sie.
Sie mochte
steil auf die hundert zugehen, und jeder in der Familie, einschließlich ihm,
mochte eine Heidenangst vor ihr haben, aber er hatte sich schon immer
schwergetan, Dinge zu sagen, die er nicht meinte. Und im Augenblick hatte er
für die üblichen Nettigkeiten noch weniger übrig als sonst.
»Sie haben
Sie gehen lassen«, stellte er fest. »Was müssen Sie für einen Narren an diesem
Mädchen gefressen haben, um ihr das durchgehen zu lassen.«
Da lachte
sie nur, durchtrieben wie sie war.
»Wann ist
sie aufgebrochen?«, wollte er wissen.
»Um Punkt
Mitternacht«, sagte sie. »Du kennst ja Olivia. Immer für einen dramatischen
Auftritt oder Abgang zu haben.«
Seit
Mitternacht war schon über eine Stunde verstrichen.
»Das ist
verrückt«, sagte er. »Ich kann es einfach nicht fassen, dass Sie sie allein
nach Schottland haben fahren lassen. Noch dazu mitten in der Nacht.«
»Nun
übertreib mal nicht«, beschied Ihre Ladyschaft. »Die Partys fangen doch gerade
erst an. Und allein ist sie auch nicht: Agatha und Millicent begleiten sie, von
den Heerscharen der Dienstboten ganz zu schweigen. Zugegeben, der Butler ist
ein Leichtgewicht, aber der Koch ist ein richtiger Pfundskerl. Außerdem hat sie
ein halbes Dutzend zupackende Hausmädchen mitgenommen und ein weiteres halbes
Dutzend meiner Lakaien, und du weißt ja, dass ich mich gern mit kräftig
gebauten, gut aussehenden Burschen umgebe. Nicht dass ich dieser Tage viel mehr
mit ihnen anstellen könnte, als mich des Anblicks zu erfreuen.«
Lisles
Gedanken begannen zu schweifen, und er fragte sich, was sie früher mit den
Lakaien angestellt hatte. Welch eine Vorstellung. Jäh wandte er sich wieder dem
Thema Olivia zu. »Ein recht wunderliches Geleit«, fand er. »Eine
zusammengewürfelte Schar Dienstboten und zwei exzentrische alte Damen. Ich
weiß, dass Sie ein Faible für Olivia haben und ihr keinen Wunsch abschlagen
können, aber dafür fehlen mir dann doch die Worte.«
»Olivia
kann schon selbst auf sich aufpassen«, beruhigte ihn Ihre Ladyschaft. »Sie wird
oft unterschätzt, vor allem von Männern.«
»Nicht von
mir.«
»Nein?«
Er würde
sich nicht von dem unverwandt auf ihm ruhenden haselbraunen Blick aus der Ruhe
bringen lassen. »So wie ich sie kenne, hat sie das mit Kalkül getan«, überlegte
er laut.
Sie wusste,
dass er sich schuldig und für sie verantwortlich fühlen würde – auch wenn sie
vorsätzlich falsch gehandelt hatte. Sie wusste, dass er seinen Eltern schlecht
erzählen konnte, sie sei allein nach Gorewood aufgebrochen – und er gedenke zu
Hause zu bleiben.
Zu Hause.
Womöglich
für immer.
Ohne
Olivia, die es ihm dort erträglich machte. Obwohl sie ja selbst oft
unerträglich war.
Zum Teufel
mit ihr!
»Unglaublich,
dass es niemanden in dieser Familie gibt, der sie in die Schranken weisen
kann«, sagte er. »Nun muss ich mein ganzes Leben auf den Kopf stellen, alles
stehen und liegen lassen, um sie noch einzuholen, und das mitten in der Nacht
...«
»Immer mit der Ruhe«, beschwichtigte ihn die Dowager Countess. »Mit den
beiden Alten kann sie von Glück sagen, wenn sie bis zum Morgengrauen
Hertfordshire erreicht hat.«
Derweil
auf der Old North Road
Olivia hatte ja gewusst, dass man es, wenn
man mit Entourage reiste, nicht mit der Königlichen Postkutsche aufnehmen
konnte. Dennoch – als die Dowager Countess meinte, bis Edinburgh brauche man
zwei Wochen, hatte Olivia dies für einen Scherz gehalten. Oder gedacht, dass
die alte Dame sich an das Reisetempo des vorigen Jahrhunderts erinnerte.
Nun wurde
sie allmählich eines Besseren belehrt.
Sie hatte
auch gewusst, dass man ungefähr alle zehn Meilen die Pferde wechseln musste,
und bei ansteigender Strecke gar noch häufiger. Ein guter Stallknecht konnte
ein Gespann in weniger als zwei Minuten wechseln, was die Pünktlichkeit der
Post- und öffentlichen Reisekutschen gewährleistete, doch für Olivia und ihr
Gefolge galten eigene Gesetze.
So langsam
begann ihr zu dämmern, dass ältere Damen häufigere und längere Pausen
brauchten. Zudem stiegen sie öfter bei Gasthäusern ab, als es dem gemeinen
Reisenden vergönnt war, und verweilten ausgiebig. Die Damen besuchten das
Örtchen, dehnten und streckten die alten Glieder, stärkten sich mit Speis und
Trank. Besonders mit
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